Die machen das schon

Im sozialen Brennpunkt verschafft Edel-Gastronomie berufliche Perspektiven und im Supermarkt werden die Lehrlinge zu Chefs: Wo dem Nachwuchs etwas zugetraut wird, läuft der Laden richtig gut

VON LARS KLAASSEN

Die sechs Gäste am Tisch verstummen, als einer der Kellner vorliest, was die Berliner Runde gleich erwartet: „Erster Gang – Salatvariation von Eichblatt-, Kopf-, Lollo- und Radicchiosalat.“ Insgesamt werden an diesem Abend fünf Gänge serviert. Zwei junge Männer umkreisen mit weißem Hemd und schwarzer Fliege den Tisch, um Essen zu servieren, Weine zu kredenzen oder Geschirr abzuräumen. Akurate Bewegungsabläufe und korrekte Kleidung der Servicekräfte sind einem Etablissement der gehobenen Gastronomie ebenso angemessen wie die Qualität der Speisen: von Zander über Perlhuhnbrust zu Zimthalbgefrorenem. Doch dieses Diner wird nicht in einem gut situierten Stadtteil wie Wilmersdorf, sondern im Schatten eines sozialen Brennpunkts aufgetischt: Die Runde tafelt unmittelbar neben dem so genannten „Pallasseum“ in Schöneberg. Der riesige Gebäudekomplex aus den Siebzigerjahren war lange als gefährliches Ghetto verschrien. Um dem sozialen Abwärtstrend entgegenzuwirken, wurde unter anderem das „Palladin“ geschaffen: ein Café samt gesonderter Kochschule. Die gastronomische Einrichtung soll den Stadtraum beleben – und den Kids im Kiez berufliche Perspektiven geben.

Emir, der das Fünf-Gänge-Menü in der Kochschule Palladin serviert hat, ist unmittelbar in der Nachbarschaft groß geworden. Der 20-Jährige hatte an diesem Abend ein wenig Lampenfieber. Kein Wunder, war dieser Abend doch eine Generalprobe für seine bald anstehende Prüfung zum Restaurantfachmann. Auch für Denny, der mit ihm gemeinsam aufgetischt hat, sowie für Nancy und Lukas, die als Köche das Menü in der Küche kreiert haben, ging kurz darauf die dreijährige Lehre zu Ende. Die vier haben an diesem Abend in der Kochschule gezeigt, dass sie auch in der gehobenen Gastronomie mitspielen können. Eine Woche nach der Generalprobe haben alle die Prüfung bei der IHK bestanden. Emir hat schon ein Jobangebot: an der Ostsee, im „Kaiserbad“ Heringsdorf.

„Das wir hier so einen ‚Edelschuppen‘ aufziehen, war gar nicht geplant“, sagt Brigitte Keller – und schmunzelt. Die Geschäftsführerin des Trägervereins „ubs – Umwelt, Bildung, Sozialarbeit“ ist ein Fan des jungen, wilden Starkochs Jamie Oliver. Sie wollte eigentlich „einen schrägen Schuppen für schräge Jugendliche“ am Pallasseum eröffnen. Doch das realisierte Profil ergänzt sich hervorragend mit dem restlichen Angebot. Der Verein bildet durchschnittlich rund 60 Azubis gleichzeitig aus. Das geschieht vor allem in Großküchen. Die Kochschule ist die einzige Einrichtung, in der die Azubis im Segment à la carte ausgebildet werden.

Damit dieses Projekt überhaupt an den Start gehen konnte, bedurfte es einer Anschubfinanzierung durch das Quartiersmanagement. Über ein Ausbildungsprogramm vom Land Berlin erhält der Verein zwar Mittel für die Qualifikation der Jugendlichen, doch das Café muss sich seit Anfang 2007 selber tragen – also schwarze Zahlen schreiben. „Das ist gerade in einem sozial fragilen Umfeld schwierig“, sagt Keller. „Und hier geht es um mehr als nur Jobs: Wir schaffen soziale Perspektiven – für unsere Azubis wie für das ganze Wohnquartier.“

Neue Perspektiven hat auch Ulrich Unbekannt seinen Azubis verschafft. Der Geschäftsführer der Berliner Bio-Supermarktkette viv hat zehn seiner Zöglinge gleich eine komplette Filiale in Obhut gegeben. Wer das Ladenlokal auf der Warschauer Straße in Berlin-Friedrichshain aufsucht, betritt einen behaglichen, gut sortierten und aufgeräumten Supermarkt. Auch, dass die Belegschaft recht jung erscheint, lässt kaum vermuten, dass es sich hier um ein „Jugendkollektiv“ handelt. So lautet die ironische Bezeichnung der neuen Zweigstelle im Unternehmen.

Die Belegschaft in der Filiale besteht aus Lehrlingen, die ihre Ausbildung bei der Gründung im Mai noch nicht beendet hatten. Selbst die Filialleitung setzt sich aus ehemaligen Auszubildenden des Betriebs zusammen. „Das war schon eine spannende Herausforderung“, sagt Jan Trinkaus, der schon als Lehrling in den Genuss kam, die stellvertretende Leitung des Betriebs zu übernehmen. Ganz unvorbereitet war das Jugendkollektiv freilich nicht: Fast alles, was in der neuen Filiale zu tun war, kannten die Mitglieder des Teams bereits aus ihrer Ausbildung. Rund zweieinhalb Jahre ihrer dreijährigen Ausbildung hatten sie schließlich schon absolviert. „Manches war aber auch neu“, erinnert sich Trinkaus, „etwa die Organisation des Geldverkehrs oder das Arrangieren von Verkostungsterminen für unsere Kunden.“ Sein Fazit lautet: „Es war toll, alles in die Hand nehmen zu dürfen.“

Das Team hat nicht nur den Aufbau eigenhändig unterstützt, sondern wird auch künftig die Filiale leiten. Dahinter steckt Programm: „Wir wollen den Nachwuchs fördern und ihm die Chance geben, schnell Verantwortung zu übernehmen und eigene Ideen einzubringen“, erläutert Unbekannt. „Niemand sonst wäre besser geeignet, unsere neue Filiale zu führen, als die von uns ausgebildeten jungen Mitarbeiter.“ Der rege Kundenverkehr in der neuen Filiale scheint ihm Recht zu geben.