Der Melancholie erlegen

Mit „I Went To The House But Did Not Enter“ bei den Berliner Festspielen hat Heiner Goebbels ein melancholisches Stück über das Altern geschrieben, das aber nicht recht vom Fleck kommt

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Die Ereignislosigkeit des Alters ist erdrückend. Die vier Männer, die wie ein Tableau vivant auf der Bühne herumstehen, haben nicht mehr viel zu tun. Ihre Zeit ist abgelaufen. Jetzt stehen sie ein wenig hilflos in der Woh- nung eines unlängst Gestorbenen herum, schauen aus dem Fenster ihres Mietshauses und belagern ein Hotelzimmer. Eine Bastelstube, ein alter Staubsauger und ein Radiogerät werden zu Insignien des Lebensherbstes.

Die Inszenierung der Ereignislosigkeit ist eine hohe Kunst. Samuel Beckett hat diese Kunst einst zur Perfektion gebracht. Mit seinem melancholischen Humor ist es ihm gelungen, die Zeit mit nichts zu vertreiben. Sein Text „Worstward Ho“ liegt dann auch dem dritten und letzten Bild dieser Produktion zugrunde. Seine Kontemplation über das Altern lebt von ins Leere laufenden Wortspielen und -verdrehungen. Die vier Protagonisten geben sich diesem Gedankenfluss hin – mal allein, mal im Ensemble, mal im Rezitativ, mal im Gesang.

Wenn es heute einen Künstler gibt, dem man die hohe Kunst des inszenierten Stillstands zutraut, dann Heiner Goebbels. Goebbels ist es in seinen Arbeiten der vergangenen Jahren immer wieder gelungen, Klang, Musik und Bewegung aus den alltäglichsten Momenten heraus zu motivieren, sodass das Theater wie ein selbstverständliches Nebenprodukt des Lebens seinen Lauf nimmt. Er benötigt keine Handlung, um einen erzählerischen Faden zu spinnen, benötigt keinen langatmigen Vorlauf, um eine Pointe zu setzen, keinen übertriebenen Aufwand, um die Verblüffung zu vollenden.

Jetzt hat Goebbels also ein großes Stück über das Altern geschrieben. „I Went To The House But Did Not Enter“ entstand für vier Sänger des englischen Hilliard Ensembles, für vier ältere Herren, die sich durch Texte von T. S. Eliot, Maurice Blanchot, Franz Kafka und Samuel Beckett arbeiten. Das Hilliard Ensemble, das vor allem mit seinen Alte-Musik-Einspielungen, aber auch mit ungewöhnlichen Kooperationen zum Beispiel mit Jan Garbarek berühmt geworden ist, hat keine Mühe, diese Texte zum Leben zu erwecken. Und da Goebbels Texte ausgewählt hat, deren melancholische Poesie, deren Weisheit und Klarheit von einem fast niederschmetternden Tiefsinn sind, ist der Vortrag an sich ein Ereignis.

Dann aber lässt Goebbels seine Kunst im Stich. Es will ihm nicht recht gelingen, den Ereignissen einen Ort zuzuweisen, die Bewegungsabläufe organisch zu entwickeln. Natürlich ist es vollkommen richtig, auf Virtuosität und hohe Tempi zu verzichten. Aber der Mangel an Regieeinfällen und die Statik der Szene lähmen das Stück. Es ist eigentlich gleich, ob die Szenen zwei oder vierzig Minuten dauern: mit dem ersten Takt ist alles gesagt, was folgt, ist die erdrückende Last der Zeit.

Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch für die Gesangspartien, die Goebbels – was er nicht immer tut – selbst geschrieben hat. Im Stile einer liturgischen Gesangsformel bewegt er die führende Stimme einen Ton nach oben, einen Ton nach unten, während die verbleibenden Sänger diesen Sekundgang mit modernen Harmonien anreichern. Das klingt alles rund, weich und kunstvoll – und wirkt auf Dauer ungemein ermüdend.

Es scheint, als sei Goebbels der Melancholie seines Sujets erlegen. Der Melancholiker rührt sich ja vor allem deshalb nicht vom Fleck, weil ihn die offenbare Sinnlosigkeit jeder denkbaren Unternehmung von vornherein daran hindert. Was Goebbels hier zu fehlen scheint, ist das Gefühl, dass doch auch etwas geschehen könnte.

Natürlich gelingen Goebbels auch große Momente: das Barbershop-ähnliche Quartett, das Kafkas „Ausflug ins Gebirge“ mit Lust und Tatendrang unterlegt, oder das herzzerreißende Duett für Tenor und Staubsauger. Gerade im Umgang mit den akustischen Alltäglichkeiten hat Goebbels eine für ihn ungewöhnliche Strategie gewählt.

Goebbels hat mit seiner Band Cassiber einst berstendes Glas gesamplet und das Klappern der Stöckelschuhe als rhythmisches Fundament seiner Kompositionen genutzt, hier stehen die Geräusche nun aber quer zur Musik; die Feuerwehrsirene, das vorbeifahrende Mofa, das elektronische Begrüßungsgedudel des Hotelzimmer-Fernsehgeräts – all das wirkt, als könne es die lakonische Nachdenklichkeit der vier Herren nur stören, als dränge die Welt sich unerwünscht auf.

Mit „I Went To The House But Did Not Enter“ haben die Festspiele im Rahmen der „spielzeit europa“ dem Berliner Publikum einen interessanten, aber keineswegs packenden oder ergreifenden Theaterabend beschert, der von den Zuschauern allerdings mit beifälligem und ganz besonders den Sängern geltenden Applaus aufgenommen wurde.

Weitere Aufführungen am Samstag und am Sonntag, Haus der Berliner Festspiele, 20 Uhr