Gewerkschaft sieht Kahlschlag

IG Metall-Bezirk „Küste“ geht davon aus, dass die derzeitigen Tarifverhandlungen eigentlich dazu dienen, das gesamte Tarifsystem in Frage zu stellen

Hamburg taz ■ Die IG Metall im Norden hat gestern ihre Warnstreiks fortgesetzt. Beim Poker um die geforderten vier Prozent mehr Lohn, insbesondere in der Debatte um betriebliche Öffnungsklauseln, gehe es um Kahlschlag in der Tarifpolitik, so formuliert es die Gewerkschaft. „Die Arbeitgeber wollen das Tarifsystem in Frage stellen“, sagt Frank Teichmüller, IG-Metall-Bezirksleiter Küste.

Intern richtet sich die Gewerkschaft bereits auf einen „worst case“ ein, was den Ausgang der Verhandlungen angeht. Betriebliche Öffnungsklauseln, auszuhandeln durch den jeweiligen Betriebsrat, die zur verkappten Wiedereinführung der 40-Stundenwoche dienten, werde es nicht geben. „Ich unterschreibe nichts Verfassungswidriges“, sagt Teichmüller. Denn die „Normsetzungsbefugnis“ laut Grundgesetz untersage es den Gewerkschaften, tarifpolitische Regularien an andere – und seien es Betriebsräte – zu delegieren. Schon bei der stufenweise Einführung der 35-Stundenwoche sei die Gewerkschaft knapp an einer Verfassungsrüge vorbei geschrammt. Damals hatte die IG Metall vereinbart, die „wöchentliche Arbeitszeit beträgt durchschnittlich 37,5 Stunden, Konkretes regeln die Betriebsräte“. „Das war hart am Rande“, habe später das Bundesarbeitsgericht geurteilt. Es habe die Formulierung aber durchgehen lassen, da die durchschnittliche Regelarbeitszeit insgesamt tariflich geregelt gewesen sei.

Wenn nun Betriebsräte über bis zu fünf Stunden Mehrarbeit zum Nulltarif entscheiden sollen, zumal die Arbeitszeit zur Sicherung von Beschäftigung bereits jetzt auf 30 Stunden gesenkt werden kann, hätten sie über ein ernormes Arbeitszeitkontingent zu entscheiden – und seien gegenüber den Unternehmern vergleichsweise hilflos. „Was soll der Betriebsrat machen“, fragt Teichmüller, „wenn er dem realistischen Drohungspotenzial von Produktionsverlagerungen oder Entlassungen ausgeliefert“ sei. Zudem brächten Arbeitszeitverlängerungen keine Produktionssteigerungen. Und „dass dadurch der Absatz zunimmt, glaubt nicht einmal die Gegenseite“, referiert Teichmüller. Für ihn ist Mehrarbeit lediglich ein Jobkiller: Allein bei DaimlerChrysler in Bremen würden im Falle von Arbeitszeitverlängerungen 1.250 von 10.000 in der Produktion Beschäftigten überflüssig, hat die IG Metall errechnet. Bei den Thyssen Nordseewerken in Emden wären es 179 von 1280.

Teichmüller bietet den Arbeitgeberverbänden im Nordverbund an, statt über Öffnungsklauseln über „Flexibilisierungsmöglichkeiten“ und „betriebliche Ergänzungstarifverträge“ zu verhandeln. „Was die Unternehmen brauchen, ist Flexibilität“, sagt Teichmüller. „Wenn wir das Tarifsystem kaputtmachen, ruinieren wir die Wirtschaft.“

MAGDA SCHNEIDER

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