In neun Tagen durch die Alpen

SuperAlp! ist eine sanft-mobile Alpenüberquerung mit öffentlichen, umweltschonenden Verkehrsmitteln, mit Eisenbahn und Autobus, Mountainbike und zu Fuß. Ein kalkuliertes Abenteuer nach Fahrplan auf einer 2.000 Kilometer langen Reise

Die Alpen in Zahlen: 8 Staaten, 5.954 Gemeinden, 190.568 km[2]Fläche, 13.000 Pflanzenarten, 30.000 Tierarten, 13,9 Millionen BewohnerInnen, zirka 120 Millionen TouristInnen pro Jahr. Alpenkonvention: Das Internationale Übereinkommen zum Schutz der Alpen wurde 1991 von den acht Alpenstaaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Liechtenstein, Monaco, Österreich, Schweiz und Slowenien) sowie der Europäischen Union unterzeichnet. Höchstes politisches Organ ist die alle zwei Jahre stattfindende Alpenkonferenz mit den Umweltministern der beteiligten Alpenländer. Verhandelt werden die Themenbereiche Naturschutz, Verkehr, Tourismus und Energie. Dazu wurden Protokolle verfasst, die für alle Alpenstaaten rechtlich verbindlich sind.

Das Ständige Sekretariat der Alpenkonvention in Innsbruck mit seiner Außenstelle in Bozen erfüllt vor allem administrative, technische und organisatorische Aufgaben (www.alpenkonven tion.org). Umsetzung der Alpenkonvention: In Projekten mit den sogenannten alpinen Netzwerken soll die Alpenkonvention mit Leben erfüllt werden. Solche Netzwerke sind das Gemeindenetzwerk „Allianz in den Alpen“ (www.alpenallianz.org), das „Netzwerk Alpiner Schutzgebiete“ (www.alparc.org), der Verein „Alpenstadt des Jahres“ (www.alpenstaedte.org), „Via Alpina“ (www.via-alpina.org) und die „Alpine Pearls“ (www. alpine-pearls.com).

SuperAlp!: Die sanft-mobile Alpenüberquerung für JournalistInnen wurde vom Ständigen Sekretariat der Alpenkonvention in Kooperation mit der Gemeinde Belluno organisiert. G. E.

VON GÜNTER ERMLICH

„Fifi Courage“ und „Allez Nounous“ steht auf dem Asphalt gepinselt. Ein brutaler Alpenanstieg liegt vor uns, 200 Höhenmeter, mindestens 15 Prozent Steigung. Einer nach dem anderen steigt vom Mountainbike ab, am Schluss müssen wir das Rad zum Scheitelpunkt auf 1.125 Meter schieben. Wir sind in der französischen Region Hautes-Alpes. Unten im Tal der Durance ballen sich Industrieanlagen, Felder, Ortschaften, Straßen, Schienen, Hochspannungsleitungen. Kein weißer Fleck, alles verbaut.

Später rollen wir bequem hinunter ins Tal. Doch der Zug um 13.13 Uhr wartet nicht. Außer Puste geben wir am Bahnhof Mont Dauphin unsere Leihräder zurück und nehmen den Train Express Regional in Richtung Marseille bis Gap in den französischen Südalpen. Wo einst Napoleon mit seinen Truppen durchzog, gondeln wir im städtischen Kleinbus durch die verkehrsberuhigte Zone, die von Kanonenkugeln begrenzt wird. Seit Kurzem sind Stadtbusse gratis, eine von 130 Aktionen, mit der Gap seine Umweltcharta verwirklichen will. Wir sind Versuchskaninchen, Teilnehmer eines Experiments namens SuperAlp!

Dahinter verbirgt sich keine höhenwahnsinnige „Wir suchen den Superberg“-Show, sondern eine sanft-mobile Alpenüberquerung mit öffentlichen, umweltschonenden Verkehrsmitteln, mit Eisenbahn und Autobus, Mountainbike und Elektrorad, mit der Seilbahn und zu Fuß. Ein kalkuliertes Abenteuer nach Fahrplan, 2.000 Kilometer in neun Tagen, von L’Argentière-la-Bessée im Südosten Frankreichs durch den ganzen Alpenbogen über die Schweiz und Österreich bis nach Belluno im Norden Italiens. Das Erkenntnisziel: Es gibt genügend attraktive Alternativen zum motorisierten Individualverkehr, vulgo Auto. Man muss sie nur nutzen.

Marco Onida, der Leiter des Ständigen Sekretariats der Alpenkonvention, hat SuperAlp! auf den Weg gebracht. Wo immer wir Halt machen, wiederholt der smarte Italiener das Anliegen dieser symbolischen Pilotreise. Zum einen will Onida die Alpenkonvention – ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen den acht Alpenstaaten und der Europäischen Union zur nachhaltigen Entwicklung der Alpen und zum Schutz der alpinen Bevölkerung – über die Medien bekannt machen. Denn kaum ein Mensch in den Alpen, geschweige denn außerhalb hat jemals von der Alpenkonvention gehört. Zum anderen will er mit den Vertretern verschiedener alpiner Netzwerke, meist NGOs, aber auch Behörden, die das papierne Vertragswerk auf lokaler und regionaler Ebene umsetzen sollen, ins Gespräch kommen. Auf der Agenda stehen die Kernthemen der Alpenkonvention wie Verkehr und Tourismus, Berglandwirtschaft und Naturschutz, Energie und Bodenschutz. Morgens fliegen wir noch in der „Maison des Parcs et del la Montagne“ von Chambéry, allerdings nur virtuell mit dem Joystick über die Alpen und ihre 20 Schutzgebiete. Mittags sind wir ganz real „on the track again“.

Zugfahren in der Schweiz ist ein Genuss. Sanft und lautlos schwebt der Intercity zwischen den Höhenzügen des Jura und dem Ostufer des Genfer Sees. Das letzte Stück zum heutigen Etappenort, dem Holzbildhauerdorf Brienz, legen wir im strömenden Regen auf dem Elektro-Bike zurück. Vermehrt verleihen Hotels und Touristinformationen diesen Alpine Flyer mit Hilfsmotor. Damit sollen Besucher sogar den Grimselpass hoch kommen. An nächsten Morgen befördert uns die Zahnradbahn von Interlaken zum Jungfraujoch auf 3.454 Meter. Die Eiger-Nordwand und der schmelzende Aletschgletscher hüllen sich in dichten Nebel. „Alpiner Rummelplatz“ nennt Marco Onida das „Top of Europe“. Souvenirshops und Restaurants wie das „Bollywood“, Fußballtorwand und ein Counter der Schweizer Uhrenmarke Omega mit „Markenbotschafterin“ Nicole Kidman auf lockendem Plakat. Auf dem Jungfraujoch herrscht das Gesetz der Masse, 7.000 Besucher, darunter zwei Drittel Asiaten, besuchen an Spitzentagen das „Top of Europe“.

Es gibt genügend attraktive Alternativen zum Individualverkehr

Hier oben, dramaturgisch etwas kurios, präsentiert uns die Geschäftsführerin von Alpine Pearls, Karmen Mentil, das Netzwerk von 22 sanft-mobilen Urlaubsorten. Diese „Perlen“ ermöglichen ihren Gästen die „komfortable und stressfreie Anreise mit Bus oder Bahn“ und garantieren ihnen auch, dass sie „vor Ort alle Ziele bequem ohne eigenes Auto“ erreichen.

Abends erreichen wir mit dem Zug Brig im deutschsprachigen Oberwallis. Überall im Zentrum hängen Plakate „Alpenstadt 2008“, 16 Gastronomen werben für die „Kulinarische Alpenstadt“ mit „Forelle im Röstimantel“ oder mit „Kleine Cholera auf grünem Salat“. Die Skulpturen und Objekte im Garten des Stockalperpalasts stehen für die „Kunst in der Alpenstadt“. Wie der in weiße Schafswolle gewandete Renault, der mit dem Doppeltitel „Alpen Schaf Wolle“ und „Stadt Straße Auto“ die ländlich-urbane Dualität der Alpen künstlerisch transportieren will. Denn rund zwei Drittel der Alpenbevölkerung lebt in verstädterten Regionen, während die Alpen flächenmäßig noch ein ländlicher Raum sind.

Ein Alpenstadt-Eventjahr geht schnell vorbei, doch mit Alpmove hat Brig auch ein nachhaltiges Projekt bewegt. Alpmove ist eine interaktive Internetplattform, die das Wegenetz inklusive Sehenswürdigkeiten, Hotels und Restaurants im gesamten Wallis digital darstellt. Bis Jahresende sollen 100 Routen für Wanderer und Radfahrer erfasst sein. Da passt es gut, dass mit Eröffnung des Lötschberg-Basistunnels im Dezember 2007 der Zug jetzt eine Stunde weniger ins Wallis braucht.

Drei Züge und ein Bus später. Nächster Aufenthalt: Mäder im Rheintal, Vorarlberg (Österreich). Wir treffen Vertreter des Gemeindenetzwerks „Allianz in den Alpen“, das von der Alpenschutzorganisation Cipra mitgegründet wurde. „Austauschen – anpacken – umsetzen“ lautet ihr Dreischritt, die Gemeinde soll die zentrale Instanz sein, um zusammen mit den Bürgern eine nachhaltige Alpenpolitik zu entwickeln. „Die Alpenkonvention mit ihren Themen muss in den Gemeinden spürbar werden“, sagt Andreas Götz, Geschäftsführer von Cipra.

Tags darauf erleben wir dann den Tiefpunkt des Alpenverkehrs, die Überquerung des Brenners. Der Grenzpass in den Ostalpen ist die kürzeste Verbindung von Deutschland über Österreich nach Italien. Die Brennerautobahn? Synonym für Stau, Smog, Lärm. Jedes Jahr donnern allein 2 Millionen Laster durch das schmale Tal, verstopfen die rechte Spur und alle Parkplätze. Die Brennerbahn? Für Marco Onida ein Ärgernis ohnegleichen. Ständig muss der Generalsekretär zwischen Innsbruck, dem Hauptsitz des Ständigen Sekretariats der Alpenkonvention, und Bozen, der Außenstelle, pendeln. „Der Zug braucht zwei Stunden für 120 Kilometer“, sagt Onida, „am Brenner hält er 13 Minuten!“ Die Lokomotive müsse wegen der unterschiedlichen Stromversorgung gewechselt werden, vom Wechselstrom der Österreichischen Bundesbahnen auf den Gleichstrom von Trenitalia. Onidas Subtext: Das ist provinziell und anachronistisch.

SuperAlp! vermittelt die Botschaft, dass sich Touristen ohne Auto bewegen können

Bozen in Südtirol. Im Stadtratssaal des Rathauses schimpft Klaus Ladinser, Stadtrat für Verkehr und Umwelt in Bozen, ungefiltert über die italienischen Staatsbahnen, die aufgelöst und privatisiert gehörten. Die Brenner-Eisenbahnachse liege „auf afrikanischem Niveau“. Bald wird Bozen „Alpenstadt des Jahres 2009“ und will besonders den Klimawandel in den Alpen thematisieren. Mit dem geplanten „Klimapakt“ soll die Hauptstadt von Südtirol in zehn Jahren „klimaneutral“ sein. In der letzten Dekade hat Bozen ein Netz von Radwegen geschaffen und sich aus dem Nichts zu einer Stadt mit Fahrradkultur gemausert. In der Bahnhofsallee hält ein Radverleih 100 stabile Räder für fünf Euro pro Tag bereit. Um den öffentlichen Verkehr weiter zu fördern, ist eine umweltfreundliche Straßenbahn von Bozen über Eppan nach Kaltern geplant. Der Zug bringt uns hoch ins Pustertal. Mit der Mobilcard „Südtirol Ost“ können Gäste hier Urlaub vom Auto machen und für 15 Euro eine Woche alle Bahnen und Busse benutzen. SuperAlp! wandert heute, vom Fischleintal aus durch den Naturpark Sextner Dolomiten vorbei an den Bergikonen der Dolomiten wie den Drei Zinnen und dem Zwölferkofel. Der Direktor der Naturparke in Südtirol, Arthur Kammerer, reicht einen Zirbenschnaps. „Wenn die Berge es nicht gut mit uns meinen, dann dürfen wir uns nicht wundern.“ Damit meint Kammerer auch den Einserkofel vor uns. Im vergangenen Herbst löste sich eine gigantische Steinlawine von dem 2.698 Meter hohen Berg, 60.000 Kubikmeter Fels und Schutt donnerten ins Tal, das von einer Staubschicht überzogen aussah wie nach einem Schneefall.

Der letzte Tag. Höhepunkt und Schlussakkord von SuperAlp! auf dem Monte Rite. Reinhold Messner empfängt uns in seinem Wolkenmuseum, das in einem alten Fort untergebracht und dem Thema Fels gewidmet ist. Messner macht den weltweiten Klimawandel für den Bergrutsch am Einserkofel mitverantwortlich und prophezeit künftig noch größere Steinlawinen. Heute ist alles ruhig, der Himmel strahlt wolkenlos blau. Vom Gipfelplateau des Monte Rite zeigt Messner uns die fünf höchsten Berge der Dolomiten. Was für ein erhebendes Panorama! Aber Messner sagt nur: „Wir sind hier nicht im Gebirge, sondern in der Infrastruktur.“ Der Südtiroler Bergsteiger macht sich stark für ein gedeihliches Miteinander von Bergbauernlandwirtschaft und nachhaltigem Tourismus. „Keiner kann ohne den anderen überleben.“

Und die Alpen? Sie werden, wenn es so weitergeht, irgendwann unter dem Individualverkehr kollabieren. Schon deshalb war das Experiment SuperAlp! eine lehrreiche Erfahrung: dass es geht, dem Autotrend mit alternativen Verkehrsmitteln gegenzusteuern und das Bewusstsein für eine andere Mobilität zu schärfen.