Rotes Glück im Blechmantel

Verkehrte Welt: Gourmets schmähen Treibhausware – denn sie bevorzugen konservierte Tomaten. Eine Liebeserklärung an das Gemüse in Dosen

von TILL DAVID EHRLICH

Es blubbert, dampft und spritzt. „Hmmmm, köstlich, sehr schön“, gurrt Alfred Biolek. Eben hat er Tomaten aus der Dose in einen Topf geschüttet. Dampf umhüllt den Star der Kochsendung „Alfredissimo!“.

Wie ein Zauberlehrling werkelt der 68-Jährige in seiner Studioküche. Die Soße kocht über, eine Schüssel fällt um. Macht nichts. Bio nascht und schmatzt. Aber plötzlich verdunkelt sich seine Miene: „Treibhaustomaten sind doch keine Tomaten, Placebos sind das, die reinsten Wasserbüchsen“, schimpft der Meister. Allein Dosentomaten seien noch die richtigen.

Wenn ich Tomaten sehe, denke ich an Wärme und Sonne“, schwärmt der im kühlen Böhmen zur Welt gekommene Hobbykoch. Die Magie des Südens lässt er sich nicht vermasseln: Wenn’s die Treibhaustomate nicht bringt, greift er zu Dose oder Glas.

So viel Freude am Eingemachten verblüfft. Unter Genießern ist Gemüse aus der Konserve eigentlich verpönt. Nur frische Ware garantiere wahren Genuss, predigen seit Jahren Profis und ambitionierte Laien.

Aber es gibt eine Ausnahme: die Tomate. Nicht die Konserve, die frische Tomate wird verschmäht – zumindest außerhalb der Tomatensaison. Und die ist in Deutschland kurz, sie währt nur von August bis September. „Zwei Monate im Jahr arbeite ich mit frischen Tomaten, zehn Monate mit Konserven“, sagt Achim Ellmer, Leiter der Versuchsküche der Zeitschrift Essen & Trinken in Hamburg. „Was Besseres gibt es nicht, wenn man außerhalb der Saison gute Tomatensoße kochen will“, sagt der 37-jährige Profi, der mit den Vorlieben von Hobbyköchen und Hausfrauen bestens vertraut ist.

Bei der Tomatensoße hört jedoch der Spaß auf. Sie ist der Klassiker schlechthin. Einfach und vollkommen. Idealer Partner für Nudelgerichte aller Art. Und eine Lieblingsspeise der Deutschen. Wir sind geradezu verrückt nach der roten Soße. Ihr Kick besteht im Zusammenspiel vollreifer, süßer Fruchtigkeit und pikanter Säure. Nur: Diese Stärke entwickelt die Tomate erst, wenn sie ausreifen darf.

Die Tomate, einst als Zierpflanze aus Südamerika nach Europa gebracht, ist ein faszinierendes Wesen. Nicht umsonst wird sie auch Goldapfel (italienisch: pomodoro), Paradiesapfel oder Liebesapfel genannt. Eines ihrer Geheimnisse ist die Fähigkeit, Sommersonne zu speichern. Ähnlich wie die Weinrebe verwandelt die Tomate Sonne in Geschmack und Süße.

Parallel zum Zuckergehalt nehmen auch die Aromen zu – wie bei den Weintrauben. Vollreife Tomaten enthalten vier bis fünf Prozent Zucker. Aber dafür müssen sie die Wärme eines ganzen Sommers aufsaugen. Im Klima des Südens findet die Tomate jene hundertzwanzig Sonnentage, die sie zur Entfaltung ihres Geschmacks braucht. Der niederländischen Treibhaustomate gönnt man lediglich etwa dreißig Tage – viel zu wenig. Und deshalb kein Wunder, dass ihr Geschmack auf der Strecke bleibt.

Aber es gibt noch eine dunkle Seite. Die Tomate ist ein Nachtschattengewächs. Das ist eine Pflanzengruppe, die für giftige und psychoaktive Substanzen berühmt-berüchtigt ist. Dazu gehören Pflanzen wie das Bilsenkraut, einst Lieblingsmittel der Hexen. Oder der Aufputscher Kava Kava, die giftige Tollkirsche und der Suchtmacher Tabak.

Zwar ist bekannt, dass grüne Tomaten im rohen Zustand giftig sind. Aber ist die rote, reife Tomate wirklich so harmlos, wie es uns Gesundheitsexperten weismachen wollen? „Es ist komisch“, sagt Nahrungsforscher Udo Pollmer, „dass wir so heiß auf rote Tomaten sind. Und besonders scharf sind wir auf eingeköchelte Tomaten.“ Besonders Ketchup und Tomatensoße hätten einen geradezu verdächtigen Grad an Beliebtheit erreicht. Die innige Liebe könne man nicht allein damit erklären, dass es uns gut schmeckt, meint der Ernährungswissenschaftler.

Muss aber eine Tomatensoße wirklich so lange köcheln? Pollmer vermutet, dass das stundenlange Blubbern die Alkaloide der Tomate verstärkt. Die machten zwar nicht süchtig, aber glücklich. Vielleicht sollten die Deutschen, notorische Weltmeister im Jammern, einfach mehr Tomaten essen. Das würde vieles erträglicher machen.

Reife Tomaten sind Mimosen. Sie vertragen keinen langen Transport, platzen schnell und faulen leicht. Kein Wunder, dass die Züchter ihr diese Zicken abgewöhnen wollen. Und uns den Geschmack – denn den „goldenen Äpfeln“ wird mit sturem Blick auf Haltbarkeit und Lagerfähigkeit zunehmend ihr Aroma ausgetrieben. Besonders hierzulande scheint dies die wenigsten zu stören. Im Schlechtwetterland Deutschland werden auch im tiefsten Winter frische Tomaten verlangt. Hauptsache, die Farbe stimmt.

Das Rot der Tomate gibt uns Nordeuropäern offenbar die Illusion von Wärme, Sonne und Süden. Von dieser Sehnsucht nach dem Süden lebt die holländische Tomatenindustrie. Treibhaustomaten sind meist schnittfestes Wasser. Auch Strauchtomaten sind mittlerweile nur noch Alibitomaten aus dem Gewächshaus. Selbst Frühtomaten aus Marokko, Italien und Spanien sind oft Schattengestalten, verglichen mit ihren vor Saft und Kraft strotzenden Schwestern in Weißblech. Also greift der Tomatenliebhaber zum Dosenöffner – notgedrungen.

Was macht die gute Dosentomate aus? Sie birgt in sich das sonnengereifte Aroma. Die Methode ist klassisch: Die Tomaten werden erst im August und September, im Zustand höchster Reife, frühmorgens geerntet. Direkt vom Feld gelangen sie zur Verarbeitung, werden gewaschen und geschält. Nicht mit Wasser, sondern in Tomatensaft werden sie schonend pasteurisiert. Ob Blech oder Glas, sicher ist: So eine Tomate ist jedem Treibhausexemplar geschmacklich weit überlegen. Nur: Sogar im Blech ist neuerdings eine holländische Massenzucht, wasserreich und geschmacklos, auf dem Vormarsch. Sie verdrängt allmählich die traditionelle italienische Flaschentomate „San Marzano“. Es empfiehlt sich daher ein gewisses Markenbewusstsein beim Einkauf. Damit der Traum vom roten Glück nicht zum wässrigen Trauma wird.

Übrigens: Gute Konserven kommen nicht nur aus Italien. In Österreich kümmert sich der Bauer Erich Stekovics um die Erhaltung geschmacklicher Vielfalt. Während die Tomatenindustrie die Fülle mehrerer tausend Sorten auf eine Hand voll Hochleistungsträger reduziert hat, kümmert sich Stekovics um alte, vergessene Tomatensorten.

Das sind solche, die nicht nach Turbokriterien, sondern nach Geschmack gezüchtet wurden. Erich Stekovics ist Tomatenfreak. Gut 1.100 (!) alte Tomatensorten baute er auf seinen Feldern am Neusiedlersee in seinem speziellen Mikroklima an. Mit dreihundert Sonnentagen jährlich findet die Tomate dort Bedingungen wie in Südeuropa.

Stekovics lässt seine Tomaten voll ausreifen. Entsprechend ist das Ergebnis. Seine „passierten Tomaten“ im Glas sind eine geschmackliche Offenbarung: eine unglaublich intensive Fruchtigkeit, in der zartbittere Aromen mitschwingen. Wer nur Treibhaustomaten kennt, dem öffnet sich eine neue geschmackliche Dimension.

TILL DAVID EHRLICH, Jahrgang 1964, freier Journalist in Berlin, schreibt über Kulturthemen, Wein und Nahrung. 2002 erhielt er den Förderpreis des Champagnerhauses Lanson für eine Reportage im Slow-Food-Magazin über das Weingebiet Tokaj