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Keine Ziele, alles Zufall

Bewegung als Selbstzweck: Die Filme in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“ handeln von beiläufigen Begegnungen, zufälligen Beziehungen, dem orientierungslosen Leben im Niemandsland

VON DIETMAR KAMMERER

Die Filme, die die „Perspektive Deutsches Kino“ in diesem Jahr versammelt, verweigern ihren Protagonisten oft genug genau das: eine Perspektive, einen Weg raus aus alldem. Man formuliert keine Ziele mehr, es sei denn, in terroristischer Absicht oder als kompletten Zufall. Wo an eine Ankunft nicht mehr zu denken ist, gilt es umso mehr, ständig in Bewegung zu bleiben: auf der Flucht, auf der Suche oder auf dem Amoklauf.

Auffallend oft funktionieren die diesjährigen Beiträge deutscher Jungfilmer wie nihilistische Road-Movies: Unterwegs zu sein birgt kein Versprechen von Freiheit mehr, stattdessen müsste man lernen liegen zu bleiben, und wenn es auf einer Autobrücke ist. Dort endet die Odyssee des Nachtschwärmers Fabo (Stipe Erceg) in „Der Typ“ von Patrick Tauss. „Einfach mal liegen bleiben, das hilft beim Nachdenken.“ Um zu dieser Einsicht zu gelangen, hat ihn das Drehbuch zuvor auf einen Passionsweg geschickt, der eine Erlösungsgeschichte im Modus der Gewaltfantasien eines Tex Avery erzählt: Er wird überfahren, lässt sich die Hand brechen, anschießen und bekommt zum Schluss endlich das, was er den ganzen Film über gesucht hat: ordentlich eins auf die Fresse. Das Glück im Unglück, gesucht und gefunden.

Auch die junge Familie in Jan Krügers „Unterwegs“ lässt sich von der Urlaubsbekanntschaft nur allzu gern von dem öden Campingplatz in Brandenburg weg zu einem Spontanausflug an die polnische Ostseeküste überreden. Dort beginnt eine ménage à trois, an deren Ende jeder für sich vor einem Scherbenhaufen steht. Man begegnet sich zufällig, hält es eine Weile miteinander aus und geht dann wieder getrennte Wege.

Die gleiche Grundkonstellation trägt den Eröffnungsfilm „Mitfahrer“. Nicolai Albrechts Auto-Kino verbindet drei Geschichten über Mitfahrgelegenheiten von und nach Berlin, in der wie in einer Laborsituation so ziemlich jede denkbare Beziehungsstörung unters Brennglas genommen wird: der Manisch-Depressive, die Zicke, der Neuroriker, der Zwangsunglückliche. Großartig Ulrich Matthes als nervtötender Bademodenvertreter, unter dessen Maske als betont lockere Labertasche die Abgründe seiner Figur wie unter ganz dünner Haut durchscheinen. Danach möchte man nie mehr mit fremden Menschen auf engstem Raum zusammengepfercht sein.

Genau das ist jedoch das Schicksal der Protagonisten im Dokumentarfilm „Die Grenze“ von Holger Jancke, der sich nach seiner Drehbucharbeit für „Drei Stern Rot“ erneut mit den Interna des DDR-Grenzregimes befasst. Fünf junge Männer Anfang zwanzig wurden im Februar 1986 ins Grenzausbildungsregiment Halberstadt einberufen, um dort zu lernen, ihr Heimatland gegen „äußere und innere Feinde“ zu verteidigen. Auch sie sind zur Ortlosigkeit verdammt, obwohl sie für einen genau definierten Bereich des „Schutzstreifens“ verantwortlich sind, führen sie für anderthalb Jahre praktisch ein Leben im Niemandsland. Im Ort wird die so genannte „Garde des Proletariats“ mit Hass empfangen, nach Westen steht ohnehin der Feind, und auch nach Osten, zur Familie, ist jeglicher Kontakt untersagt. Trotzdem schreiben einige heimlich Briefe, einer macht sogar Fotos, wofür eigentlich das Militärgefängnis droht. Regisseur Jancke, einer der fünf, bringt die unfreiwillige Gruppe nach Jahren zurück an den Ort, den sie nie wieder sehen wollten, konfrontiert sie mit ihrer Einstellung zur „Schusswaffengebrauchsbestimmung“ und mit der Entscheidung von einem, der damals in ihrem Alter war und sich gegen den Militärdienst und die Staatsräson entschied.

In die deutsch-deutsche Vergangenheit begeben hat sich auch Branwen Okpako („Dreckfresser“) mit ihrem Spielfilm „Tal der Ahnungslosen“. Dort in Dresden forscht die afro-deutsche Kommissarin Eva Meyer (Nisma Cherrat) nach ihrer Herkunft und den Eltern, die sie nie kennen gelernt hat. Ihre Ankunft löst eine Kette von Ereignissen aus, die weder sie noch der Film ganz überschauen können: Zufällig kommt ein Mann ums Leben, zufällig ist die Mordverdächtige ihre Mutter, zufällig ist ihr Polizeikollege und Liebhaber ein Ex-Nazi, zufällig wurde ein Kind gezeugt. Außerdem geht es um den Spitzelapparat der DDR, um die Freudlosigkeit eines Kinderheims, um Rassismus, das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, die Geschichte der Sklaverei und das Ende des Kalten Krieges. Am Ende sind so viele Wunden aufgetan, dass nur noch ein Ort das Versprechen der Versöhnung bieten kann: die Kirche.

Wenig überraschend hat der Film „Muxmäuschenstill“ auf dem diesjährigen Max-Ophüls-Filmfestival gleich vier Preise gewonnen, darunter auch den Hauptpreis als bester Film. Man wünscht ihm, seinem Regisseur Marcus Mittermaier und Hauptdarsteller und Drehbuchautor Jan Stahlberg jede Menge weiterer Preise, so famos ist die grotesk-schwarze Komödie um den „Weltverbesserer“ Mux.

Der sieht aus und redet wie ein Versicherungsvertreter, hat aber seiner Ansicht nach viel mehr zu bieten, nämlich „Sinn und Verantwortung“. Wer beim Schwarzfahren, Radeln auf dem Bürgersteig oder beim Rot-über-die-Ampel-Gehen von Mux und seinem Kameramann erwischt wird, darf zahlen und sich geläutert fühlen und bekommt obendrein einen Ehrenplatz in einem von Mux „Schulungsvideos für die Nation“. Dass hinter der Maske des selbstgerechten Biedermeiers ein Psychopath steckt, ist nicht schwer zu erraten. Da hat endlich mal einer sein Ziel gefunden: der Travis Bickle unter den Jungunternehmern zu werden.

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