Sex and the Shtetl

Schluss mit der Betroffenheit! Klezmer-Bands aus London und New York bringen die Hochzeitsmusik des osteuropäischen Judentums wieder dorthin, wo sie hingehört: auf die Tanzflächen der Clubkultur

VON DANIEL BAX

Klezmer hat in Deutschland einen zweifelhaften Ruf. Einerseits hat sich die Musik als Soundtrack der Wiedergutmachung durch gesetzt. Darum wird der Klezmer-Klarinettist Giora Feidman zum 9. November zur Gedenkstunde in den Bundestag geladen. Deswegen schießen ständig neue Klezmer-Wochen und -Festivals aus dem Boden, von Weimar bis Gelsenkirchen. Und darum drängen sich in Deutschland so viele Hobby-Klezmer-Bands pro Quadratmeter wie sonst nirgendwo auf der Welt.

Andererseits provoziert so viel Versöhnungswille natürlich auch gallige Gegenreaktionen. Gerade unter Juden in Deutschland wird die innige Klezmer-Liebe der Deutschen oft mit Sarkasmus vermerkt: Sie kommt ja auch ein paar Jahre zu spät.

Kein Wunder, dass sich Lemez Lovas lieber von dem belasteten Begriff distanziert. „Nein, wir sind keine Klezmer-Band“, behauptet der Trompeter von Oi Va Voi. Und die Geigerin Sophie Solomon sekundiert: „Klezmer war ein Einfluss unter vielen. Aber wir sehen uns eher in der urbanen Tradition von London.“

Lässig lümmeln sich der blasse Brite und seine Bandkollegin auf den Plastikstühlen einer lärmigen Cafeteria am Rande der Weltmusikmesse Womex. Die beiden Musiker sind schwer gefragt, seit sie sich bei der Womex in Essen vor zwei Jahren mit einem gefeierten Gig erstmals einem deutschen Fachpublikum präsentierten. Inzwischen ist ihr Debütalbum „Laughter Through Tears“ erschienen, und dieser Tage kommen Oi Va Voi zum ersten Mal für eine kurze Clubtour nach Deutschland. Das hier eine gewisse Erwartungshaltung besteht, wenn das K-Wort fällt, stört sie nicht: „Wenn das heißt, dass mehr Leute zu unseren Konzerten kommen, dann ist das okay“, gibt sich Sophie Solomon pragmatisch.

Dabei eilt Oi Va Voi ein eindeutiger Ruf voraus: Sie gelten als Band, die Klezmer ins 21. Jahrhundert beamt. Denn sie bringen den Sound aus dem Schtetl mit sexy House-Beats zusammen und schrecken auch nicht davor zurück, Balkanmelodien mit Ragga-Rhythmen zu kreuzen. In gewissem Sinne knüpfen sie dort an, wo auch das Klezmer-Revival im New York der Achtzigerjahre einst ansetzte: Sie bringen die Hochzeitsmusik der osteuropäischen Juden wieder dorthin, wo sie einst hingehörte, auf die Tanzfläche. Nur jetzt eben auch mit den Mitteln der Elektronik.

In ihrer hedonistischen Herangehensweise ähneln sie den frühen Klezmatics aus New York, die lange Zeit als hipste Klezmer-Kapelle in town verschrien war. In den Achtzigerjahren begannen die Bohemiens von der Eastside ihre Karriere damit, alte Klezmer-Klassiker nachzuspielen, gepaart mit jiddischen Arbeiterliedern aus den Zwanzigerjahren und einer anarchischen Grundhaltung. Rasch stiegen sie damit zu Stars einer Revival-Szene auf, die sich im Umfeld der Knitting Factory sammelte. Mit ihren ersten Auftritten im alten Europa, etwa beim allerersten „Heimatklänge“-Festival 1988 in Berlin, versetzte die Band auch dem Klezmer-Boom hierzulande den entscheidenden Kick.

Inzwischen sind die Klezmatics so etwas wie die Rolling Stones des Klezmer-Revivals, Elder Statesmen der Bewegung. „Ich wünschte, wir würden das gleiche Geld verdienen“, wehrt Frank London den Vergleich ab. „Aber es stimmt schon. Die Leute wollen immer eine ganz bestimmte Sache“, gibt er zu. „Das Publikum mag es gar nicht, wenn man sich ständig neu erfindet.“

Seit 15 Jahren hält der Trompeter bei den Klezmatics die Fäden in der Hand, und er kennt die Erwartungen seines Publikums. Gerade in Deutschland scheint Betroffenheit noch immer die vorherrschende Rezeptionshaltung zu sein, wenn es um Klezmer geht: Ein Umstand, der schon manchem Konzert selbst der Klezmatics eine Stimmung irgendwo zwischen Andacht und Begräbnis verliehen hat.

Vielleicht liegt es auch an solchen Routinen, dass von der einstigen Besetzung der Klezmatics nicht mehr viel übrig geblieben ist: Als Erster verließ der Klarinettist David Krakauer schon Mitte der Neunzigerjahre die Band, um sich fortan der jazzigen Klezmer-Dekonstruktion zu widmen. Und im letzten Jahr trennte sich die Geigerin Alicia Svigals von den Klezmatics.

Auch bei Frank London drängt sich der Eindruck auf, dass ihm inzwischen seine Seitenprojekte mehr Spaß machen. Dabei steht meist nicht mehr, wie so oft bei den Klezmatics, die plakative Botschaft im Mittelpunkt, sondern ausschließlich die Musik. Wenn er mit dem Boban Markovic Orkestar, einem serbischen Roma-Ensemble, ein Konzert gibt, dann reißt er schon mal Witze über die Ironie, gleich zwei Opfergruppen auf einer deutschen Bühne zu versammeln. Aber wenn er von seiner Arbeit mit den Musikern aus Belgrad spricht, dann redet er lieber in Kategorien wie „tight“ und „loose“, um die unterschiedlichen Arbeitsweisen zu charakterisieren.

Mit leichtem Neid notiert der Veteran Frank London das Aufsehen, das Newcomer wie Oi Va Voi erregen, wenn sie Klezmer nun fit für die Clubs machen. Aber wenn er von Sophie Solomon gefragt wird, bei einem Album mitzuwirken, auf dem sie und ihr DJ-Partner „Socalled“ alte Samples von zerkratzten Klezmer-Schellacks mit HipHop-Beats paaren, dann steht auch er nicht abseits. So ist Frank London auch auf dem Album „HipHopKhasene“ zugegen, auf dem sich die Hochzeitsmusik aus dem 19. Jahrhundert mit jiddischen Freestyle-Einlagen mischt.

Und warum auch nicht? Die Vermählung von HipHop und Klezmer ist schließlich keine neue jüdische Weltmusikverschwörung, sondern nur Zeichen für einen Generationswechsel im Klezmer-Fach. Sophie Solomon und Lemez Lovas, ihr Partner bei Oi Va Voi, sind beide schließlich Kinder der Clubkultur. Bevor sie ihre Passion für traditionelle Klänge entdeckten, betätigten sie sich als DJs: Lovas war eher dem HipHop zugetan, Solomon legte auf House-, und Jungle-Partys auf. Sie lernten sich erst kennen, als sie sich 1997 zum Sprachstudium in Moskau eine Wohnung teilten.

Zurück in London, gründeten sie den Verein Yad Arts, dem jüdische Musiker, Filmemacher und andere Künstler angehören. Und, zusammen mit vier weiteren Musikern die Band Oi Va Voi, die zu einer Art Hauskapelle des Freundeszirkels wurde. Der Name ist übrigens einem jiddischen Ausruf des Erstaunens nachempfunden, so was wie „Oh mein Gott!“. Etwas Ähnliches dürfte wohl auch jenen entfahren, die im Internet eigentlich nach einer ganz anderen Art von Oi-Musik suchen und dabei auf die Band stoßen.

Ihr Albumdebüt „Laughter Through Tears“ haben Oi Va Voi beim Londoner Label „Outcaste“ veröffentlicht, das bislang eher für den Sound des so genannten Asian Underground bekannt war, für indisch angehauchten Drum’n’Bass oder die Chill-out-Fusion eines Nitin Sawhney. Oi Va Voi fühlen sich gut aufgehoben bei dem Migrantenlabel, denn sie sehen ihre jüdische Kultur im Kontext einer universellen Geschichte der Immigration. „Es geht uns um urbane Kultur: Um die Muster, die aus dem bunten Geflecht einer Einwanderungsgesellschaft entstehen“, sagt Lemez Lovas. „In meiner Straße komme ich an indischen Läden, an einem algerischen Imbiss und einer karibischen Bäckerei vorbei, und von überall kommt einem Musik entgegen: Das ist der Sound von London.“

So lässt sich ein Song wie „Refugee“, mit dem ihr Album beginnt, denn auch auf mehreren Ebenen lesen: als ambivalente Liebegeschichte eines Mannes zu einer Frau oder als Beziehung eines Flüchtlings zu seiner neuen Heimat. Und so verwundert es nicht, dass Oi Va Voi in London schon mit dem marokkanisch-britischen Drum’n’Bass-Kollektiv MoMo zusammengearbeitet haben und mit dem algerischen Barpianisten Maurice El Medioni. Überhaupt hat man schon viel auf der Bühne gestanden, bevor man sich endlich ins Studio begab, um den eigenen Stücken den letzten Schliff zu geben. „Wir sind seit vier Jahren eine Band, da stimmt die Chemie“, sagt Sophie Solomon selbstbewusst. „Das unterscheidet uns von Studioprojekten wie dem Gotan Project, die erst ein Album gemacht und dann eine Band für die Bühne formiert haben.“

Für ihr Album engagierten Oi Va Voi sehr verschiedene Stimmen: von der schottischen Sängerin KT Turstall, die der Mehrzahl der Tracks ihre glockenhelle Stimme leiht, über den Rude Boy Earl Zinger (alias Galliano) bis hin zu Majer Bodgansky, einem jiddischen Sänger der alten Schule. Zudem konnten sie einen Produzenten verpflichten, der schon mit Finley Quaye und David Bowie im Studio stand.

Die lange Arbeit an „Laughter Through Tears“ hat sich jedenfalls ausgezahlt. Ein Kritiker der New York Times zählte es zu den besten zehn Alben des vergangenen Jahres und verglich die Band mit Massive Attack. Und in Israel, wo „Laughter Through Tears“ seit dieser Woche in den Läden steht, lobte es die Zeitung Haaretz als „einfach unwiderstehlich“. Die Zukunft des Klezmer hat gerade erst begonnen.

Oi Va Voi: „Laughter Through Tears“ (Outcaste); Socalled & Solomon: „HipHopKhasene“ (Piranha); Frank London’s Klezmer Brass All Stars: „Brotherhood of Brass“ (Piranha); Klezmatics: „Rise Up!“ (Piranha), David Krakauer: „Live in Krakau“ (Label Bleu) Oi-Va-Voi-Tournee: 9. 2. Köln, 15. 2. Hamburg, 17. 2. Berlin