Europa wählen

Eine Volksbefragung zur künftigen Verfassung der Europäischen Union würde die Gemeinschaft stärken – zudem ist sie die logische Folge der Arbeit des Konvents

Für eineVolksbefragung müsste das deutsche Grundgesetz nichtgeändert werden

„Europa näher zu den Menschen bringen“ ist eine Maxime des Europäischen Konvents, der seit einem Jahr eine Verfassung für Europa erarbeitet. Die Idee, die künftige Europäische Verfassung mit Hilfe eines Referendums zu legitimieren, wird seit Beginn der Konventsarbeiten diskutiert. Zahlreiche Mitglieder des Konvents, darunter auch der Konventspräsident Giscard d’Estaing und Vizepräsident Giuliano Amato, aber auch Vertreter nationaler Regierungen und Vertreter des Europäischen Parlaments haben sich inzwischen dafür ausgesprochen, die Bürger Europas über die Ergebnisse der Konventsarbeit abstimmen zu lassen. In Deutschland haben sich parteiübergreifend sowohl die rot-grüne Regierungskoalition als auch die FDP und einige Politiker der CSU zugunsten einer direkten Beteiligung der Bürger bei der Annahme der Europäischen Verfassung geäußert.

Die Europäische Verfassung ist für die politische Einigung Europas von zentraler Bedeutung. Sie konstituiert eine Union der Bürger und der Staaten – daher sollten die Unionsbürger auch über ihre Verfassung abstimmen dürfen. Ein Referendum würde den Bürgern ermöglichen, ihre Haltung zu der Europäischen Verfassung unmittelbar zu artikulieren und der Europäischen Verfassung damit eine starke Legitimation verschaffen. Es würde breit angelegte Informationskampagnen in den Mitglied- und Beitrittsstaaten notwendig machen und daher zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen. Die Bürger müssten von der Verfassung überzeugt werden. Ein Referendum in der Zukunft ist ein Informationsauftrag für die Politiker der Gegenwart. Während der Konventsarbeit wurde etwa durch die Organisation eines Forums der Zivilgesellschaft und eines Jugendkonvents sowie zahlreicher weiterer Aktivitäten auf Transparenz und Bürgernähe gesetzt. Es wäre widersprüchlich, am Endpunkt des Projektes, bei der Annahme der Europäischen Verfassung, die Bürger außen vor zu lassen.

Viele Mitglied- und Beitrittsstaaten der Europäischen Union sehen in ihren Verfassungen die Möglichkeit vor, bei Änderungen der Europäischen Verträge Referenden durchzuführen; zum Teil sind sie zu solchen sogar verpflichtet. Einige Staaten – wie insbesondere Dänemark und Irland – verfügen bereits über umfangreiche praktische Erfahrungen mit Europareferenden. In allen Beitrittstaaten werden Referenden zur EU-Mitgliedschaft durchgeführt.

Im Europäischen Recht sind Referenden derzeit zwar nicht vorgesehen und müssten daher nach dem geltenden Vertragsänderungsverfahren zunächst in die Europäische Rechtsordnung eingefügt werden. Eine solche Vertragsänderung noch vor der Verfassungsverabschiedung ist schon aus zeitlichen Gründen nicht realisierbar. Dennoch sollte eine europaweite direkte Beteiligung der Unionsbürger bei der Annahme der Europäischen Verfassung ermöglicht werden. Hierzu müsste der Konvent beziehungsweise die nachfolgende Regierungskonferenz empfehlen, die Annahme im Weg eines Referendums vorzunehmen.

Ein dahin gehender Vorschlag einer Arbeitsgruppe mit Konventsmitgliedern in Brüssel wurde vergangene Woche offiziell beim Konvent eingereicht und erhielt bisher 38 Unterschriften von Konventsmitgliedern. Es ist damit zu rechnen, dass sich eine deutliche Mehrheit der 105 Konventsmitglieder für den Vorschlag aussprechen wird. Basierend auf dem so genannten Prinzip der doppelten Mehrheit soll die Europäische Verfassung sowohl durch eine Mehrheit der Bürger als auch eine Mehrheit der Staaten angenommen werden.

Die Mehrheit derKonventsmitglieder wird sich für ein Referendum aussprechen

Für den Fall einer Ablehnung der Europäischen Verfassung durch ein Referendum in einem Mitgliedstaat sieht der Vorschlag mehrere – bisher noch keineswegs ausdiskutierte – Optionen vor: Der betreffende Staat könnte nach Aushandlung eines speziellen Status erneut ein Referendum durchführen, er könnte seine Beziehungen zur neuen verfassten Europäischen Union durch einen bilateralen Vertrag regeln, oder er könnte die Europäische Union verlassen.

Insgesamt zielt der Vorschlag darauf, dass Referenden in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften durchgeführt werden. Soweit das nicht ohnehin schon jetzt der Fall ist, können in den übrigen Staaten zumindest Volksbefragungen (konsultative Referenden) abgehalten werden. Die Referenden sollten zeitgleich mit der Europawahl im Juni nächsten Jahres stattfinden. Sie böten einen zusätzlichen Anreiz, sich an der Europawahl zu beteiligen. Ein solcher Anreiz ist dringend nötig, denn die Wahlbeteiligung ist seit der ersten Direktwahl 1979 erheblich gesunken, bis auf unter 50 Prozent bei den letzten Wahlen 1999. Keine verfassungsrechtlichen Grundlagen zur Durchführung von Referenden auf nationaler Ebene existieren bisher außer in Deutschland lediglich in Belgien, den Niederlanden und der Tschechischen Republik. Die letztgenannten beiden Staaten haben aber schon spezielle Gesetze geschaffen, die Referenden ermöglichen sollen.

Ein konsultatives Referendum in Deutschland, das zusätzlich zur und zweckmäßigerweise vor der Ratifizierung der Europäischen Verfassung durch Bundestag und Bundesrat durchgeführt würde, riefe keine verfassungsrechtlichen Probleme hervor. Die Volksbefragung könnte auf der Grundlage eines einfachen Parlamentsgesetzes erfolgen, entscheidend bliebe das Votum der beiden Verfassungsorgane; dieses normale parlamentarisch-repräsentative Verfahren würde um das direktdemokratische Element der Volksbefragung ergänzt. Die Frage an die Bürger könnte etwa lauten: „Der Europäische Konvent hat eine Verfassung für Europa beschlossen. Soll diese Verfassung von Deutschland ratifiziert werden?“

Die Bundestagsfraktion der SPD hat schon in der vergangenen Wahlperiode befürwortet, ein Referendum zur Europäischen Grundrechtecharta durchzuführen. Ein Referendumsgesetz in Deutschland hat daher in dieser Wahlperiode keine schlechten Chancen. Der Bund läge damit voll im Trend der Länder, die sämtlich Plebiszite in ihren Rechtsordnungen kennen. Immerhin hat die Hälfte der 16 Bundesländer Volksentscheide zu ihren Verfassungen durchgeführt.

Die Bürger müssten von der Verfassung überzeugt werden – das schafft eine europäische Öffentlichkeit

Lediglich die Einführung eines bindenden Referendums würde eine Verfassungsänderung erfordern, da entgegen der jetzigen Rechtslage das Volk abschließend entscheiden würde und nicht mehr die Verfassungsorgane Bundestag und Bundesrat. Für ein bindendes Referendum in Deutschland gibt es gegenwärtig nicht die erforderliche verfassungsändernde Mehrheit. Ein konsultatives Referendum ist also möglich, vor allem ist es nötig. „Mehr Demokratie wagen“, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa.

JÜRGEN MEYER