Tango auf der Brücke

Surren und Klacken

Die letzten Sonnenstrahlen des Jahres, warm ausgegossen über der kleinen Brücke am Berliner Dom. Menschen fließen von hüben nach drüben, Fahrräder flitzen vorbei. Der Strom macht einen Bogen: Konzentriert und selbstvergessen spielt ein Tango-Trio Geige, Akkordeon und Gitarre. Das schräg fallende Licht des Nachmittags glänzt auf den schwarzen, mit Gel streng nach hinten gezogenen Haaren der Tänzerin. Ihr Partner hält sie fest, sehr fest. Die beiden blicken sich ernst, fast streng an, und wenden den Blick nicht voneinander ab. Auch nicht, als sie sich drehen, wenden, weitertanzen.

Sie hält ihr Rad an und schaut. Noten wehen über das Wasser, in dem gelbe Blätter treiben. Die Musik klingt wie das weiche und rhythmische Spanisch, das das Trio zum Publikum spricht. Nur das Nötigste, ein Stakkato zwischen den Liedern: „Das nächste Lied heißt … Danke fürs Zuhören.“ Dann sieht sie den Mann. Er sitzt im Rollstuhl. Seine gekrümmten Finger liegen auf der Lehne, neben dem Steuerknüppel. Er schaut lange, lange zu, versunken. Fasziniert, aber nicht wehmütig. Sie ist sich nicht sicher, ob er glücklich oder unglücklich aussieht. Eigentlich nichts von beidem.

Seine Blicke folgen den beiden Tänzern, die geschmeidig weitertanzen, einen einzigen großen Bogen. Sie denkt an die Schuhe, die sie sich gekauft hat, perfekt für Tango. Wunderbar geschwungen, feine Riemchen, klackende Absätze. Bisher hat sie sie nur auf Kongressen getragen. Abrupt wendet sie sich ab und schwingt sich auf ihr Fahrrad. Sie wird nicht sehen, wie er die Finger gegen den Steuerknüppel drückt und davonfährt, mit diesem surrenden Geräusch elektronischer Rollstühle. Ihr Fahrradsattel ist von der Sonne ganz warm geworden. MIRIAM JANKE