Die Not der heutigen Jugend

„Was nützt die Liebe in Gedanken“: Der neue Film von Achim von Borries mit Jungstar Daniel Brühl ist eine wahre Geschichte aus dem Steglitzer Sommer 1927 – ein von Wein und Likör befeuerter Liebesreigen mit großen Gefühlen und tragischem Ende

VON WIBKE BERGEMANN

Das Gründerzeithaus in der Steglitzer Albrechtstraße 72c ist eine Spur großzügiger und eleganter als die Mietshäuser der Nachbarschaft. In der Küche sitzen die Gymnasiasten Paul Krantz und Günther Scheller. Es ist die Nacht zum 28. Juni 1927, vor den beiden stehen etliche Flaschen Wein und Likör. Sie sitzen in der Küche der gutbürgerlichen Scheller’schen Wohnung und besaufen sich. Beide haben die Nase voll von der autoritären Schule und der Enge des Alltags: Der exzentrische Günther, der schon mal geschminkt in der Schule erscheint, ist der Männerliebe nicht abgeneigt. Der schüchterne Paul, der mit einem Stipendium das Gymnasium besuchen kann, lebt seine Sehnsüchte in Gedichten aus, die etwa „Der Mord“ heißen.

Gemeinsam führen Paul, 18, gespielt von Good-Bye-Lenin-Star Daniel Brühl, und August Diehl in der Rolle des 19-jährigen Günther einen Schülerclub an, „Fe-Hau“, zu dessen Regeln es gehört, stets aufzufallen. In jener Nacht sind die Jugendlichen allein zu Hause, wie so oft sind Günthers Eltern verreist. Im Schlafzimmer der Eltern vergnügt sich derweil Günthers 16-jährige Schwester Hilde mit ihrem Liebhaber Hans. Die kesse Hilde ist Pauls Freundin, will sich aber nicht auf einen festlegen.

Paul und Günther steigern sich immer tiefer in ihre Eifersucht und in ihren romantischen Weltschmerz hinein. Berauscht von Alkohol und Todessehnsucht, beschließen sie, mit Pauls Revolver erst Hilde und Hans zu töten und dann ihrem eigenen Leben ein Ende zu setzen. Sie verfassen Abschiedsbriefe, einen davon „ans Universum“. Gegen Morgen fallen Schüsse: Günther erschießt Hans, dann sich selbst. Als Paul sich umbringen will, entreißt ihm Hilde die Waffe.

Ein halbes Jahr später, am 9. Februar 1928, beginnt der Prozess gegen Paul Krantz am Schwurgericht II in Moabit, wegen Verabredung zum Mord. Von Anfang an erregt der Fall die Öffentlichkeit. Vor dem Gerichtsgebäude kommt es täglich zu Tumulten, der Andrang neugieriger Zuschauer übersteigt die Sitzmöglichkeiten im Gerichtssaals bei weitem.„Unerwartete Ausdehnung des Krantz-Prozesses“, „Der geschminkte Primaner“, „Die Not der heutigen Jugend“, titeln die Gazetten über den Prozess, wobei es mehr um Werteverlust denn um den singulären Mord geht. Die Reporter erreifern sich über die sittliche Krise der Jugend, über den Voyeurismus des Prozesspublikums und lassen es sich dennoch nicht nehmen, über den Hergang des Selbstmords hinaus Pikanterien aus dem Intimleben der Jugendlichen zu berichten, und entfachen im Berliner Bürgertum eine breite Diskussion über den Zustand der Jugend. Der Steglitzer Fall scheint symptomatisch für den moralischen Verfall der Nachkriegsgesellschaft: Während das Heer der Arbeitslosen und die Verelendung ständig wachsen, feiern die, die es sich leisten können, das rauschende Fest der Goldenen Zwanziger.

Vor allem Hildes öffentliche Schilderung ihrer – für ein Mädchen ihres Standes ungehörigen– unbegleiteten Besuche zu Tanzveranstaltungen und ihre wechselnden Liebeleien rufen die Sittenwächter auf den Plan. Zeitungskommentatoren suchen die Schuld an der „vorzeitigen geschlechtlichen Hingabe“ und das „hemmungslose Triebleben“ der modernen Jugend vor allem in der „Dekadenz der Eltern“. Erbost bezeichnet der Berliner Lokalanzeiger die Erziehungsmethoden der Schellers als „Leichtsinn, der allen und zu allem Freiheit gab“.

In den Leserbriefen an den Lokalanzeiger tobt ein Kampf der Generationen zwischen den alten Werten des Kaiserreichs und einer neuen Freizügigkeit: Ein Primaner meint, die Steglitzer Tragödie habe erst deutlich gemacht, „was wir Jüngeren schon seit langem fühlen. Für uns ist das Sexualleben kein Schmutzgebiet!“ Geheimrat Gruber erinnert hingegen daran, dass sich noch um die Jahrhundertwende Schüler und Schülerinnen einander nur auf beaufsichtigten Tanzveranstaltungen nähern durften. Andere Leserbriefschreiber machen die „überhitzte Atmosphäre unserer Tage“ für die „Not der Jugend“ verantwortlich: „Überall Verherrlichung des Sichauslebens.“

Bereits am 11. Februar erreicht die hitzige Debatte sogar den Reichstag. Auch hier geht es um die Verrohung der Jugend – und ihren Schutz: „Kein Vater und keine Mutter, die es ernst meinen mit ihren Kindern, werden sie den Gefahren gewisser schamloser Prozessberichte aussetzen wollen“, begründet der Abgeordnete Wilhelm Dittmann seinen „Antrag auf Änderung des Pressegesetzes“ – der allerdings abgelehnt wird.

Drei Wochen verhandelt das Gericht. Gegen Ende des Prozesses schlägt die Stimmung jäh um. Aus Paul, dem Mordplaner, wird Paul, der verführte Pennäler. Als der bleiche Junge freigesprochen wird, bricht im Publikum frenetischer Beifall aus.

Paul Krantz verlässt Berlin und kehrt nie mehr zurück. Auch die Familie Scheller ist schon lange aus der Albrechtstraße 72c ausgezogen. In dem gutbürgerlichen Haus weiß heute niemand mehr, welcher Liebes- und Todesreigen hier vor 76 Jahren stattfand. Die älteste Mieterin ist Frau Hempe, noch keine 70 Jahre. Als sie hört, was hier passiert sein soll, sagt sie nur: „Genau wie die Jugend von heute.“