„Bei uns gibt es genug Platz und Aufgaben für euch alle!“

Der Gouverneur des westsibirischen Oblasts Swerdlowsk (Jekaterinburg), Eduard Rossel, fordert alle Russlanddeutschen in Berlin auf: Wenn sie hier nicht das gefunden hätten, wovon sie träumten, sollten sie nach Russland zurückkehren. Für einige Spätaussiedler ist das Angebot durchaus attraktiv

Russlanddeutsche wurden lange als„Manövriermasse“ missbraucht

Ende vergangenen Jahres fand in Berlin ein „internationaler Kongress der russischsprachigen Presse“ statt, zu dem man den Gouverneur des westsibirischen Oblasts Swerdlowsk (Jekaterinburg) als Ehrengast geladen hatte. In seiner Rede forderte Eduard Rossel alle Russlanddeutschen, „die ja auch Deutschrussen, sind, also Söhne und Töchter von zwei großen Kulturen“, auf: Wenn sie hier nicht das gefunden hätten, wovon sie träumten, sollten sie nach Russland zurückkehren: „Bei uns gibt es genug Platz und Aufgaben für euch alle!“

 Der Gouverneur versprach ihnen außerdem Unterstützung bei der Arbeitsfindung sowie beim Grundstückserwerb oder bei der Haus- und Wohnungssuche. Auch ihre Einbürgerung wolle man beschleunigen. Die meisten deutschen Spätaussiedler hatten zuletzt kasachische Pässe. Die Einladung des Gouverneurs sprach sich auch sofort in Kasachstan unter den dortigen Russlanddeutschen herum.

 Seine Rede wurde in der Moskauer Regierungszeitung Rossijskaja Gazeta und hier in der Wochenzeitung Russkaja Germanija/Russkij Berlin nachgedruckt. Anfang des Jahres war aus dem Amt des Gouverneurs zu erfahren, dass bereits 54.000 Russlanddeutsche ihr Interesse an einem Neuanfang im Mittleren Ural bekundet hätten und ein spezielles Amt dafür eingerichtet worden sei.

 Der Oblast Swerdlowsk, etwa so groß wie die BRD, hat nur fünf Millionen Einwohner, ist aber eine prosperierende Industrie- und Bergbauregion – fast ohne Arbeitslosigkeit. Deswegen gibt es dort laut Rossel vor allem einen „Kadermangel“. Obwohl die Russlanddeutschen sich in Kasachstan und Deutschland als „Menschen zweiter Klasse“ fühlen, wird bezweifelt, dass wirklich 54.000 ihr Interesse an Sibirien bekundet haben. Eher würden sie – zumindest die in Kasachstan lebenden Russlanddeutschen – nach Deutschland ziehen beziehungsweise weitere Verwandte von dort nachholen.

 Dies wird ihnen jedoch von der deutschen Regierung zunehmend erschwert. So klagt zum Beispiel Alexander Fitz, ein in München lebender Journalist und Autor des Buches „Puteschestwije na semlu“ über die Geschichte der Russlanddeutschen: „Nicht nur werden die Sprachtests immer schwieriger und die Bearbeitung der Übersiedlungsanträge dauert immer länger, auch die deutschen Medien zeichnen vielfach noch ein negatives Bild von den Russlanddeutschen.“

 Seit dem 13. März hat der Aussiedlerbeauftrage der rot-grünen Regierung, Jochen Welt, jedoch wieder einen kleinen Schritt auf die Spätaussiedler zu getan: Er spricht jetzt nicht mehr von ihren „nichtdeutschen Verwandten“, sondern von „Familienmitgliedern, die nicht verpflichtet sind, deutsche Sprachkenntnisse nachzuweisen“.

Nach Abdruck der Rede des Swerdlowsker Gouverneurs Rossel hatte die Redaktion der Ruskaja Germanija/Russkij Berlin viele Leserbriefe von Russlanddeutschen bekommen: sowohl aus Deutschland als auch aus dem ehemaligen asiatischen Sowjetrepubliken. Eine in Bernau lebende Familie schrieb, dass sie vor ihrer Spätaussiedlung als wissenschaftliche Mitarbeiter in der Ukraine gearbeitet hätten. Hier bekämen sie nun leider zu spüren, dass „ihr Wissen, ihre Erfahrung und ihre Arbeitskraft“ niemand haben will. Deswegen sei das Angebot aus Jekaterinburg für sie attraktiv.

 Zwei in Usbekistan lebende Ehepaare, deren Männer beide als Lokomotivführer beschäftigt sind, schrieben, sie seien zwar ohne Zweifel deutsch, hätten aber die Sprachprüfung nicht bestanden. Sie könnten deswegen nicht nach Deutschland emigrieren. Weil die Lebensbedingungen in Usbekistan aber immer schwieriger würden, überlegen sie nun, in den Ural zu ziehen. Auch ein Russlanddeutscher aus Neustadt begrüßte die „helfende Hand des russischen Gouverneurs in dieser schweren Zeit“ – zumal die deutschen Behörden für die überallhin versprengten Russlanddeutschen das Tor fast zugemacht hätten.

 Es gibt aber auch viele kritische Stimmen, die die Rede des Gouverneurs Rossel für eine bloße PR-Aktion in seinem Wahlkampf halten. Oder für einen Dreh, um an Fördergelder – sowohl aus Berlin als auch aus Moskau – heranzukommen.

 Die Russlanddeutschen sind auch deswegen skeptisch, weil sie nicht erst seit gestern als „Manövriermasse“ missbraucht werden: Einst als Siedler nach Russland eingeladen, wurden sie dort spätestens seit dem Ersten Weltkrieg in Schüben als fremde Gefahr immer weiter nach Osten verschoben und enteignet. Dabei kamen fast eine halbe Million Menschen allein zwischen 1941 und 1956 um.

 Seit der Perestroika sind, umgekehrt, 1,5 Millionen Spätaussiedler aus der Sowjetunion nach Deutschland gezogen: allein aus Kasachstan 700.000, wohin gleichzeitig 30.000 Kasachen aus der Mongolei reemigrierten.

 Der Botschafter Kasachstans in Deutschland, Wjatscheslaw Gisatow, bedauert den Aderlass an fleißigen Deutschen: „Wenn sie zurückkehren wollen, wird Kasachstan sie mit offenen Armen empfangen“, verspricht er. Jährlich kommen etwa 50.000 Ausgewanderte als Besucher zurück. Kasachstan fördert diese Verbindungen und will es ihnen erleichtern, Visa zu erhalten und Geschäfte anzubahnen. Sowohl der kasachische Botschafter als auch der westsibirische Gouverneur setzen auf den eurasischen Wirtschaftsraum. In ihm könnten die Russlanddeutschen die Funktion eines Transmissionsriemens zwischen West und Ost wahrnehmen.

 Zuvörderst empfinden viele Russlanddeutsche diese Aufgabe aber oft noch als Zumutung. Sie sitzen auf den Umschulungsbänken, und man erwartet von ihnen, dass sie sich hier sofort integrieren. Dazu bräuchte es jedoch Arbeitsplätze, die es für sie am allerwenigsten gibt. Dennoch: Unter allen Ausländergruppen haben die Russlanddeutschen inzwischen die geringste Arbeitslosigkeit.

 Mit den überraschenden Offerten aus Kasachstan und Sibirien beginnt vielleicht ein neues Kapitel in der Geschichte der Russlanddeutschen – jetzt nicht mehr als altschwäbische Siedler, sondern als neue eurasische Nomaden. „Wir brauchen die Russlanddeutschen, die schon immer ordentlich gewirtschaftet und sich durch soziale Stabilität sowie psychische Widerstandsfähigkeit ausgezeichnet haben“, meint Eduard Rossel. Und Wjatscheslaw Gisatow ergänzt: „Wir sind ihnen dankbar für ihren Beitrag für die wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Entwicklung Kasachstans“.EKATERINA BELIAEVA
HELMUT HÖGE