Bis zur Explosion

Öffentliches und Privates sind eins, leider: „Avanim“ (Panorama) des israelischen Regisseurs Raphael Nadjari

Eigentlich hatte der letztjährige Berlinale-Liebling „Broken Wings“, ein Familiendrama, den großen Schnitt schon gemacht. Auch Israelis haben einen Anspruch auf den Rückzug ins Private und israelische Filmemacher das Recht, wichtige Themen wie Nahostkonflikt, Selbstmordanschläge und jüdische Orthodoxie links liegen zu lassen. Insofern tut „Avanim“ einen Schritt zurück. Und gibt Anlass zu der Sorge, dass sich die Dinge doch nicht ohne weiteres trennen lassen.

Gerade eine moderne Frau wie Michale hat da ihre Schwierigkeiten. Im Büro ihres Vaters, der für verschiedene religiöse Institutionen die Verwaltung übernimmt, arbeitet sie als Buchführerin. Dass es die Talmud-Schüler faustdick hinter den Ohren haben und den gutgläubigen Vater für krumme Geschäfte missbrauchen, stört sie gewaltig. Doch zunächst gilt es das Familienleben zu ordnen, zu dem neben Mann und Kind auch ein Liebhaber gehört. Regisseur Raphael Nadjari lässt sich viel Zeit, Michales zermürbenden Alltag zwischen Büro, Kindergarten und ihrem eher bescheidenen Vergnügen in Szene zu setzen. Den Gipfel ihres zähen Ringens bildet ein Sabbatmahl im engsten Familienkreis. Die Gebete sind ihr so egal wie die auflockernden Scherze der Männer. Hauptsache, das Essen steht auf dem Tisch.

Niemand hier ist zwischen Tradition und Moderne hin und her gerissen. Man lebt mit beidem. Als Michale mit ihrem Vater den Rabbi aufsucht – die Finanzierung einer neuen Talmud-Schule geht in die letzte Runde –, regieren die jungen Orthodoxen entsetzt. Sie trägt keine Kopfbedeckung! Doch sie kennt den Rabbi schon seit der Kindheit und weiß, dass er auf diese Art Respekt verzichten kann.

Nadjaris Blick auf die Orthodoxie ist entspannter als etwa der seines Kollegen Amos Gitaï („Kadosh“), er differenziert, betrachtet auch die Geistlichkeit als prinzipiell liebenswertes, offenes System. Bis zur Explosion. Michales Liebhaber wird bei einem Sprengstoffattentat getötet. Von da an gerät das säkulare Arrangement mit dem Patriarchat aus den Fugen.

Es ist der Mut der Verzweiflung, der die schöne, schroffe und doch vor allem labile Frau vorantreibt. Er führt zu Vergeltungsmaßnahmen, einem weiteren Zwischenfall und einer viel zu kurzen Katharsis, die einen nach diesem ruhigen Film ziemlich aufgewühlt zurücklässt.

PHILIPP BÜHLER

Heute 14 Uhr, Cinemaxx 7