im müllermilchbrei von WIGLAF DROSTE
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Einer der Meistüberschätzten war und ist Heiner Müller – der Mann mit der dicken Brille und der Zigarre, der sich entschied, kein Schriftsteller zu sein, sondern das Gegenteil davon: ein Schriftsteller, wie das Feuilleton sich ihn wünscht, vorstellt und ausmalt. Wären die Kunsteunuchen in den Redaktionen die Literaten geworden, als die sie sich so gern durchs Leben wichtigten, dann wären sie, wie Heiner Müller war.

Wie weit man mit einer allzeit kamerabereiten Denkerrübe kommen kann, wenn man nur viel vages Geraune aus ihr herauspladdern lässt, kann man Müllers Hörspiel „Mommsens Block“ von 1993 entnehmen. Es ertönt die stockende, belegte, gleichsam käsfüßige Stimme Heiner Müllers: „Die Frage, warum der große Geschichtsschreiber den vierten Band seiner römischen Geschichte, den lang erwarteten über die Kaiserzeit, nicht geschrieben hat, beschäftigt die Geschichtsschreiber nach ihm. Gute Gründe sind im Angebot, überliefert in Briefen, Gerüchten, Vermutungen. Der Mangel an Inschriften: Wer mit dem Meißel schreibt, hat keine Handschrift, die Steine lügen nicht. Kein Verlass auf die Literatur, Intrigen und Hofklatsch. Selbst die silbernen Fragmente des lakonischen Tacitus nur Lektüre für Dichter, denen die Geschichte eine Last ist. Unerträglich ohne den Tanz der Vokale auf den Gräbern gegen die Schwerkraft der Toten und ihre Angst vor der ewigen Wiederkehr.“

„Der Tanz der Vokale auf den Gräbern“, rhabarber, salbader, tip-top: Das ist die Sprache Heiner Müllers, und wenn er selbst Mund anlegt, dann hakelt, psöpselt, heddert und pfofft das nicht nur kognitiv, es macht auch so richtig Ohrenaua. Müllers kopfschwaches Angebergeächze über den Historiker Theodor Mommsen kommt zwar mit 37 Minuten aus, die gefühlte Zeit aber ist 37 mal so lang, Minimum.

Der Dichter Peter Hacks wusste, was er von Müller zu halten hatte: „Darauf, einem Konkurrenten ein Geschäft zu verderben, einem Kollegen die Ehre abzuschneiden, einem Kommunisten die Gurgel umzudrehen, auf diese drei Aufgaben werden Sie Heiner Müller vorbereitet finden, wann immer sich ihm eine Gelegenheit bietet, es gefahrlos zu tun, an jedem einzelnen Tag und zu jeder einzelnen Stunde.“ In „Fin de Millénaire“ sonettete Hacks: „Wer nie vom Schönen je vernahm, vermißt nichts. / Ein Bürokrat sucht Intendanten aus. / Müller kann nichts, weiß nichts, ist nichts. / Ein Irrer wickelt Lappen um ein Haus. // Ich gähne nur in jedem solchen Falle. / Gegen den Niedergang kommt keiner an. / Ich laß sie machen, weil ich sie nicht alle / In einem Dahmesee ersäufen kann. // Ja, wenn ich könnte. So verkroch ich mich / In einer Grotte des Jahrtausendendes. / Wo mich ein Schlafbedürfnis, ein horrendes, / Bis zu Betäubung übermannte. Ich, / Der ich rein körperlich zum Müdsein neige, / Vergebt mir, wenn ich keinen Zorn mehr zeige.“

Schon in dem DDR-Hörspielkrimi „Der Tod ist kein Geschäft“ von 1962, das Heiner Müller unter dem Pseudonym Max Messer schrieb, zeigte er sich als perfekte Phrasenschleuder: „Das Ermittlungsergebnis ist Selbstmord, klar?“ Dafür wurde und wird Heiner Müller verehrt: Er war Dieter Bohlen, bevor es Dieter Bohlen im Westen gab.