Wenn einer stellvertretend für andere denkt

Teddy, der Inkommensurable (4): Theodor W. Adorno hielt es nicht nur für das Recht, sondern sogar für die Pflicht des Intellektuellen, das falsche Leben und Bewusstsein der Mitmenschen unnachsichtig zu verdammen. Das macht seine Philosophie angreifbar für den Vorwurf des Meisterdenkertums

Normale Menschen sind nicht in der Lage, ihre wahre Situation zu erkennenGerade der Affekt gegen Autoritarismus machte sein Denken autoritär

von THOMAS SCHÄFER

Als wir jungen Nach-68er seinerzeit an den Universitäten studierten, stellte die Philosophie Theodor W. Adornos unser Denken und Leben in Frage und räumte dabei hoch reflektiert und differenziert mit so gut wie allem auf, was einem bis dato wertvoll oder doch unproblematisch erschienen war.

Von nun an konnte, ja musste man mit seinem gesamten Leben im Widerspruch stehen – mit den eigenen Vorstellungen von Liebe, der Wahrnehmung der Natur oder auch mit seinen alltäglichen musikalischen Hörgewohnheiten. Statt sich darin zu Hause zu fühlen, hatte man sich in all diesen Lebensbereichen wie im Gefängnis zu fühlen, wenn nicht sogar – nach einer von Adornos beliebten Übertreibungen – in der „Hölle“. Kein Ort der Freiheit, nirgends! Das war die große Botschaft dieses kulturkritischen Denkens, das zu den berühmten Sätzen führte: „Das Ganze ist das Unwahre“ und „Es gibt kein wahres Leben im falschen.“

Adornos Kritik an unserer Welt als einem Gebäude von Herrschaft, Gewalt und Unterwerfung, einem Leben in „totaler Entfremdung“ und zunehmender Verarmung der eigenen Erfahrung – mit all dem ließ sich eine manipulierte und entstellte Wirklichkeit anprangern, die sich als nicht authentisch, standardisiert und klischeehaft, zugleich aber höchst massenwirksam darstellte.

Es war vor allem das antiautoritäre, antitotalitäre Denken Adornos und der Frankfurter Schule, das all jene begeisterte, die den Autoritarismus und die individuelle Zwangsintegration nicht nur innerhalb der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und ihrer Staatsmacht, sondern auch innerhalb der eigenen Familien erfahren hatten. Insofern kam diese Art von Gesellschaftskritik und ihre Radikalität uns jungen, gegen das herrschende „System“ eingenommenen StudentInnen damals gerade recht.

Weil hinter all dem auch noch eine tief greifende philosophische Position stand – die Kritik an der Herrschaft der „instrumentellen Rationalität“ –, war Adornos Denken für viele so ausnehmend attraktiv. Tatsächlich wurde sein Werk in jenen Jahren von nicht wenigen wie ein Heiligtum gehandelt, und zwar in einem so radikalen Sinne, dass einige seiner Interpreten selbst noch dessen eigentümliche Satzstellung des Wörtchens „sich“ imitieren zu müssen glaubten. Die mimetische Anverwandlung an den Meister sollte auch in der Sprache zum Ausdruck sich bringen.

Was die Horrorvisionen Adornos damals nicht nur attraktiv, sondern für manch einen geradezu unwiderstehlich machte, war neben den bereits erwähnten inhaltlichen Gründen vor allem eines: Man fühlte sich – insbesondere nach der Lektüre – in der auf Ausbeutung, Herrschaft und Klischeehaftigkeit gegründeten bürgerlichen Gesellschaft zwar nicht besonders wohl, aber man konnte sich nun, dank der neuen Perspektive, als Teil einer geistigen Avantgarde begreifen. Hatte man damit doch das Privileg, auf der richtigen Seite zu stehen, und das ergab einen moralischen Selbstwert – oder Mehrwert –, der sozusagen das funktionale Äquivalent für ein glückliches und zufriedenes Leben in der etablierten Gesellschaft darstellte.

Adorno verband mit dieser bequemen sozialen Position jedoch auch eine ethische Verpflichtung, die er in seinem Hauptwerk „Negative Dialektik“ so ausdrückte: „An denen, die das unverdiente Glück hatten, in ihrer geistigen Zusammensetzung nicht durchaus den geltenden Normen sich anzupassen, ist es, mit moralischem Effort, stellvertretend gleichsam, auszusprechen, was die meisten, für welche sie es sagen, nicht zu sehen vermögen.“

In Aussagen dieses Typs wurde unmissverständlich deutlich, dass aus der geistig-moralischen Selbstprivilegierung der Kritischen Theoretiker ein Recht abgeleitet werden sollte, für andere die Wahrheit auszusprechen – selbst gegen deren eigene Einsichten und Interessen. Denn es war nicht nur der objektive Zeitgeist als falsch erkannt, sondern auch das Bewusstsein der Zeitgenossen. Diese konnten aufgrund ihrer „Verblendung“ und Anpassung an das Ganze als Komplizen jener falschen und schlimmen Welt identifiziert werden. Und so hatte man mit Adorno nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, das falsche Leben und Bewusstsein aufzudecken und unnachsichtig in Grund und Boden zu verdammen.

In dieser Situation tauchten gegen Ende der 70er-Jahre Schriften französischer Philosophen auf, in denen eine vehemente Kritik an den intellektuellen „Meisterdenkern“ vorgetragen wurde. Von einem Tag auf den anderen war man mit einer Infragestellung dessen konfrontiert, was einem an dem Frankfurter Philosophen gerade erst ans Herz gewachsen war.

Die Kritik von Autoren wie Michel Foucault und anderen richtete sich jedoch weniger gegen die (häufig geteilten) inhaltlichen Thesen Adornos und verwandter Theoretiker als vielmehr gegen die Form, in der sie vorgetragen wurden. Dabei zeigte sich, dass bestimmte nicht hinnehmbare – sagen wir es drastisch: diskriminierende und menschenverachtende Folgen mit einer solchen Form von „Wahrheitsdiskurs“ verbunden sind. Diese stellten sich aber in dem Maße als unvermeidlich dar, wie die gesamte Anlage und Struktur einer solchen Art von Meisterdenkertum letztlich auf ein entsprechendes intellektuelles Selbstverständnis, auf einen subtilen intellektuellen Snobismus (Richard Rorty) hinauslaufen musste.

Dafür waren vor allem zwei Elemente von Adornos Denken verantwortlich: Zunächst die traditionelle philosophische Idee, dass die eigenen Vorstellungen vom guten menschlichen Leben von den anderen eigentlich geteilt werden müssten, wenn sie nur allgemeinmenschlich und authentisch würden. Das hieß bei Adorno vor allem: Jeder wünschte und erträumte sich doch an sich ein Leben in wahrhafter Selbstverwirklichung, frei vom Identitätszwang sowie anderen Formen der Unterwerfung. Diese für allgemeingültig gehaltenen Vorstellungen vom Menschen und seinem Glücksstreben, die Adorno seiner Kritik somit auch zugrunde legte, glaubte er deshalb als allgemeinverbindliche „Wahrheiten“ ansehen zu können.

Ergänzt wurde dieser ethisch-anthropologische Universalismus durch eine wiederum typisch philosophische Idee: dass nämlich die Erfahrungen des Menschen mit sich, mit der Gesellschaft und der Natur auch von anderen, quasi repräsentativ, gemacht werden könnten. Und da der normale Zeitgenosse nicht dazu in der Lage sei, seine wahre Situation zu erkennen, folgte für Adorno, dass er vom Intellektuellen vertreten werden müsse: in der Erfahrung des Leidens an der Gesellschaft und an sich selbst, ebenso wie in dem Protest dagegen.

„Als Intellektueller war man ein wenig das Bewusstsein aller“, kommentierte Michel Foucault später mit ironischem Unterton genau diese Situation, in der „der Intellektuelle den Anspruch erhob, als Repräsentant der Allgemeinheit gehört zu werden“.

Historische und sozialphilosophische Studien, die eher an Nietzsche als an Marx und Hegel orientiert waren, hatten vielen von uns inzwischen jedoch vor allem eines deutlich gemacht: dass sowohl die Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt als auch die Erfahrungen von Leid und dem Widerstand dagegen keineswegs „objektiven“ oder übersubjektiven Charakter besitzen. Sondern dass all dies abhängig ist von entsprechenden subjektiven, historisch und kulturell variablen Wahrnehmungsformen, Idealen und Wertschätzungen. Damit aber erschien die Vorstellung, man könnte und sollte andere bezüglich derartiger ethischer Erfahrungen repräsentativ vertreten und für sie die Stimme erheben, obsolet, weil von tiefer Missachtung gegenüber dem Eigensinn des Anderen geprägt.

Diese und ähnliche relativierende Perspektiven auf den eigenen theoretischen und moralischen Standpunkt, ebenso wie die sich daraus ergebende Notwendigkeit entsprechender Selbstreflexionen, konnten Adornos Denkweise offensichtlich jedoch nicht in den Blick geraten. Und damit fatalerweise auch nicht die diskriminierenden Effekte, die mit ihr verbunden waren. Erschienen diese dem Frankfurter Philosophen doch als notwendige und durchaus positive Folgen einer Pflicht zur Kritik, der es um die Verbesserung der Menschheit ging.

Die Selbstüberzeugtheit, der absolutistische Gestus und die angemaßte Autorität desjenigen, der glaubte, „die Wahrheit“ für alle aussprechen zu können, waren also als konstitutive Bestandteile eines Denkens sichtbar geworden, das – paradoxerweise gerade in seinem Affekt gegen Autoritarismus und Totalitarismus – selbst diesen Untugenden zum Opfer gefallen war. Eine Tragik von Kämpfern für Freiheit, Gerechtigkeit und Emanzipation, die Bertolt Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ in der schlichten Formulierung zum Ausdruck brachte: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge.“

Unter diesem Aspekt wurden Autoren wie Adorno peu à peu umso suspekter und angreifbarer, je mehr sich hierzulande ein Zeitgeist durchsetzte, der von ideologischem Liberalismus und politischem Pluralismus zunehmend geprägt war. (Sodass selbst Adornos berühmter Schüler Jürgen Habermas sich gezwungen sah, gerade auch an dieser Stelle der Theorie von seinem hochverehrten Lehrer dezidiert Abstand zu nehmen.)

Die Tatsache, dass wir die Dialektik und wohl auch die Tragik des Denkens von Adorno heute mit einer gewissen Wehmut zu beklagen haben, ändert jedoch nichts daran, dass ein Werk weiterhin einen großen Fundus von Perspektiven, Einsichten und Instrumenten bereitstellt. Insbesondere gegen die Logik des Ökonomischen und des Krieges; gegen die ihr entsprechenden Handlungs- und Lebensformen, die vom Geist der Verwertbarkeit, von Herrschaft, Unterwerfung und Standardisierung geprägt sind.