Ackern ohne Kettenhemd

Eine Tagung an der Bremer Uni verhilft der mittelalterlichen Bevölkerungsmehrheit zu ihrem Recht. Abseits von düsteren Schlachtengemälden werden der kleine Mann und seine Lebenswelt ins rechte Licht gerückt.

Es wird Zeit, dass der Alltag der einfachen Leute ins Bewusstsein gerückt wird

Bremen taz ■ Die Bläser wummern, die Streicher fideln. Schwer klappt das Visier herunter. Der Sehschlitz reduziert die Sicht auf einen schmalen Ausschnitt der Welt. So wenig das klischeebeladene Bild vom Lanzengang auf der Waldlichtung kennzeichnend für das gesamte Mittelalter ist, so treffend charakterisiert dieser verengte Blickwinkel die historische Unzulänglichkeit gängiger Vorstellungen von dieser vielschichtigen Epoche.

„Man verliert leicht aus dem Auge, dass damals 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Land lebte“, gibt Brigitte Kasten vom historischen Institut der Uni des Saarlandes zu bedenken. „Es wird Zeit, dass das Alltagsleben dieser Menschen stärker ins Bewusstsein gerückt wird.“ Dazu soll die Tagung „Tätigkeitsfelder und Erfahrungshorizonte des ländlichen Menschen“ beitragen, die noch bis Sonntag an der Bremer Universität stattfindet. Das Plakat zeigt ein einfach gewandetes Bäuerlein, das in wenig rückenschonender Haltung den Boden beackert. Von Topfhelm und Kettenhemd keine Spur. Keine Chance für das „finstere Mittelalter“. Kasten erklärt, diese Schmähung sei das Ergebnis von Missinterpretationen, – speziell im Hinblick auf das 10. Jahrhundert: „Ein Großteil der Quellen aus dieser Zeit besteht aus Gerichtsakten und Kriegsschilderungen. Das rückt den Aspekt der Gewaltanwendung natürlich in den Vordergrund.“ Auch neigten die Schilderungen von Kampfhandlungen zu glorifizierenden Übertreibungen. Im Regelfall, so die Spezialistin für Sozialgeschichte, habe man übrigens keineswegs auf Kosten der Landbevölkerung gekämpft, sondern versucht, Besitz und Bauern zu schützen. Die waren keineswegs so versklavt, wie die üblichen Darstellungen glauben machen wollen. Darüber gibt der Vortrag „Vom Sklaven zum Bauern“ Aufschluss, der die Stellung der Hörigen differenziert darlegt. Solche Fragen nach ökonomischen Strukturen und deren sozialen Folgen bilden einen Schwerpunkt der international und interdisziplinär besetzten Historikertagung.

Johannes F. Feget vom Mittelalter-Veranstalter „Fogelvrei Produktionen“ aus Hassel freut sich über die Bremer Bemühungen um seine Lieblingsepoche. Über die Attraktivität des einfachen Landmannes für das Publikum macht er sich allerdings keine Illusionen: „Ackerbau lässt sich nicht so leicht kommunizieren.“ Weltbild und Lebensumstände des frühen Mittelalters seien dem heutigen Menschen nur schwer vermittelbar. Da bietet er den Besuchern lieber „ein bisschen Hollywood“ und konzentriert sich weitgehend auf das hochmittelalterliche Markttreiben. Mit Ignoranz hat das nichts zu tun. „Fogelfvrei“ sucht den Dialog mit Dozenten und Museen, versteht sich aber vor allem als unterhaltsames Vehikel, um den Normalbürger an die historische Thematik heran zu führen.

Das Mediävisten-Treffen an der Uni hingegen bietet wenig Anreiz für jene, die sich nach einer temporären Flucht aus der Realität sehnen. Die Standortbestimmung in Sachen „Verortung des ländlichen Menschen“ ist kein Familienerlebnis, sondern eine Fundgrube für vorgebildete Mittelalterfreunde, die tief in die Materie eintauchen wollen. Hier erfahren sie mehr über deskriptive Namensgebung, die Entwicklung der Kartografie, religiöse Bedürfnisse oder die Ess- und Trinkgewohnheiten zur Zeit der Merowinger. Wenig anschaulich, dafür aber wissenschaftlich verbürgt. „Wir blicken zurück auf den Forschungsstand der letzten 25 Jahre“, fasst Brigitte Kasten das Ziel der Veranstaltung zusammen. Damit meint sie jedoch keineswegs eine reine, rückwärts gewandte Bestandsaufnahme: „Gerade bei den einfachen Leuten war eine Menge an Innovationskraft gefragt. Vielleicht können wir heute, angesichts unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten von ihnen lernen.“Christoph Kutzer