Hoffnung ihres Landes

Als Schlussläuferin der Staffel musste Kati Wilhelm in die Strafrunde und verlor dort Silber für Deutschland. Im heutigen Massenstart-Rennen aber soll sie Gold gewinnen – für Thüringen

AUS OBERHOF MATTI LIESKE

„Bronze bleibt in Thüringen“, lautete gestern die Schlagzeile der Thüringer Allgemeinen – nicht etwa die des Sportteils, sondern jene auf Seite 1. Während es für den Rest der Sportwelt eine deutsche Frauenstaffel war, die am Donnerstag in Oberhof hinter Norwegen und Russland Bronze gewann, liegt der Fall im Veranstalterland dieser WM komplizierter. Hier führt man traditionell einen eigenen Medaillenspiegel, in dem als eine der größten Wintersportnationen regelmäßig Thüringen auftaucht. Und die gefährlichsten Konkurrenten kommen nicht nur aus Norwegen oder Russland, sondern auch aus Bayern. Da half nicht einmal der sporthistorische Schulterschluss, den der bayrische und der thüringische Ministerpräsident am Dienstag im Oberhofer Ski-Stadion demonstriert hatten. Es nagte kräftig am einheimischen Gemüt, dass die deutschen Medaillen in den ersten Tagen allesamt Bayern in die Hände fielen, sprich: der Mittenwalderin Martina Glagow und Ricco Groß, einem Erzgebirgler, der aber hierzulande als Bayer gilt, weil er sich kurz nach der Wende in Ruhpolding niederließ.

Nach der Frauenstaffel waren die Reaktionen im Publikum und den thüringischen Medien zwiespältig. Endlich eine Medaille, sagten die optimistisch gesinnten Freistaatler; ausgerechnet Thüringen hat es verbockt, nörgelten die anderen. Schließlich sind die deutschen Damen Olympiasiegerinnen in dieser Disziplin, und Gold bei der WM im eigenen Land hätte es schon werden sollen. Schlussläuferin Kati Wilhelm wollte nichts davon wissen, dass es der zum Nachteil mutierte Heimvorteil gewesen sein könnte, der ausgerechnet sie und ihre thüringische Landsfrau Katrin Apel am Schießstand aus der Ruhe gebracht hatte, während die bayrische Hälfte des Quartetts – Glagow und Simone Denkinger – ihren Part tadellos erfüllte. Bei der Kollegin hörte sich das schon etwas anders an. Bereits vorher hatte Katrin Apel erzählt, dass sie manchmal an der Strecke einen Hörsturz befürchte angesichts der frenetischen Anfeuerung. Man könne den eigenen Atem nicht mehr hören und sein Tempo nicht mehr richtig einschätzen. „Wenn man sich zu sehr anpeitschen lässt, bekommt man Probleme beim Schießen.“

Genau das passierte ihr als zweite Läuferin der Staffel beim Stehendschießen. „Die volle Nähmaschine“ habe sie nach der wilden Jagd durch den tobenden Wald bekommen, heftig zitternde Knie, die ruhiges Zielen unmöglich machten. „Ich habe mehr auf meine Beine geachtet als auf meinen Finger, das war nicht gut.“ Vier Fehlschüsse, ergo eine Strafrunde war das Resultat, das sich auch durch eine starke Laufleistung nicht mehr ganz wettmachen ließ.

Es war eine merkwürdige Staffel, bei der die Projektile zeitweise kreuz und quer flogen wie bei einer Saloon-Schießerei, und die sehr schön zeigte, wie sehr es beim Biathlon auf Treffsicherheit ankommt – und wie sehr auch wieder nicht. Kasachstan zum Beispiel: Dessen Athletinnen hatten nur einen Fehlschuss mehr als Norwegen – und wurden dennoch mit über zehn Minuten Rückstand Letzte. Am besten schossen die Polinnen, nur vier Fehler, trotzdem bloß 8. Platz. Und zwei Strafrunden wie Deutschland leisteten sich sonst nur China (11.) und Italien (12.). Anders als im Einzelrennen, wo jeder Fehlschuss eine Strafminute oder Strafrunde bedeutet, darf bei der Staffel dreimal nachgeladen werden. Das kostet zwar jedes Mal zehn Sekunden, doch die kann eine starke Läuferin wettmachen – wenn sie nicht noch in die Strafrunde muss.

Genau das wurde Kati Wilhelm zum Verhängnis, denn bei der Vergabe der Medaillen gab schließlich doch wieder das Schießen den Ausschlag. Als sich die klar führende Norwegerin Liv Grete Poirée uncharakteristische drei Fehler beim Stehendschießen leistete, ließ sich Wilhelm dazu verleiten, volles Risiko zu gehen. Statt sich auf den Kampf um Silber mit der gleichauf liegenden Russin Albina Achatowa, einer schwächeren Läuferin, zu konzentrieren, versuchte sie mit einem sehr schnellen Schießrhythmus, noch in dem Kampf um Gold einzugreifen. „Mit einer Strafrunde habe ich ja nicht gerechnet, ich dachte, mit dreimal nachladen krieg ich die alle weg“, sagte sie, als die Sache schief gegangen war.

Die Fähigkeit, solche Entscheidungen blitzschnell zu treffen und ihre Folgen mit Fassung zu tragen, machen jedoch gerade eine gute Schlussläuferin aus. Auch Kati Wilhelm bewies die ihr nachgesagte Kaltschnäuzigkeit und ihr Selbstbewusstsein, als sie die Staffel mit einem achselzuckenden „Schade, dass es nicht geklappt hat“ abhakte und sich insgesamt zufrieden über Bronze und ihren Beitrag dazu äußerte. „Läuferisch bin ich wieder da, wo ich hingehöre“, freute sie sich. Gerade daran hatte es im Verlauf der Weltcup-Saison gehapert. Vor der WM hatte die 27-Jährige deshalb auf den Weltcup in Antholz verzichtet und eine Woche lang an ihrer Technik gearbeitet. Außerdem bekam sie neue Ski, die im vorderen Teil „weicher“ sind, damit die relativ schwere Biathletin wieder über den Schnee gleitet, anstatt sich „vorne einzugraben“. Für das heutige Massenstart-Rennen über 12,5 km hat sich die zweimalige Olympiasiegerin jedenfalls viel vorgenommen. Das ist auch nötig: Schließlich ruhen die Hoffnungen eines ganzen Landes auf ihr, bei dieser WM doch noch die Schlagzeile lesen zu dürfen: „Gold bleibt in Thüringen.“