Hallo Pantoffel, hallo Pistole

„Stell dir vor“, ruft der Gatte, aber Hedda möchte lieber nicht. Das Theaterprojekt Textmarker hat Ibsens „Hedda Gabler“ in einem ehemaligen Laden inszeniert. Das Raumkonzept geht auf: Die Zuschauer sind mittendrin und distanziert zugleich

von ANNE KRAUME

Letzte Woche ist abermals der Versuch fehlgeschlagen, Karten für die Schaubühnen-Nora von Ostermeier zu kaufen: Bis Juni ist das Puppenheim am Lehniner Platz ausgebucht. Mein ständiger Theaterbegleiter ist der Reisen in den Westen und des Anstehens um Karten dort müde und darf deshalb mit in die Kopenhagener Straße in Prenzlauer Berg. Dort wartet zwar nicht Nora Helmer, aber Hedda Gabler – Ibsen ist es allemal. Als wir nach anderthalb Stunden wieder aus dem ehemaligen Laden mit den großen Schaufenstern treten, in dem sich das Theaterprojekt Textmarker seit Anfang dieses Jahres eine Spielstätte eingerichtet hat, ist mein theatererfahrener Begleiter begeistert. Ich auch.

Hedda Gabler: Sportlich-eleganter Freizeitlook, weite weiße Hose zu blauweißrotem Pullover und sommerlichen Sandalen. Mondän, verwöhnt, gelangweilt, ein bisschen quengelig, aber vor allem schön: So passt sie hervorragend in das Ambiente in der Kopenhagener Straße. Für die Inszenierung von Tina Küster hat Claudia Philipp den Textmarker-Laden in eine flauschige Teppichwohnlandschaft mit Clubatmosphäre verwandelt. Reisballons an langen Schnüren, tiefblaue Auslegeware auf dem Boden, bunte Neonröhren an den Kanten der Wände und Überreste von Wohnzimmerstuck an der Decke. Der gesamte Laden wird bespielt, auch die unsichtbaren Nebenräume, die Zuschauer sitzen Rücken an Rücken auf großen Kästen frei im Raum, und die Schauspieler bewegen sich zwischen ihnen und der Bar an der Längsseite gegenüber der Tür.

Jörgen Tesman, Heddas Mann: Auch er klassisch-leger gekleidet, farblich auf die Garderobe seiner Frau abgestimmt, man kommt zurück von der mehrmonatigen Hochzeitsreise. Tesman, Fachgelehrter welchen Faches auch immer, ist inspiriert, beflügelt und erfüllt von der Reise – aber dennoch: Wahre Begeisterungsstürme erlebt er erst beim Wiedersehen mit seinen Pantoffeln, die während der ganzen langen Reisezeit treu auf seine Rückkehr gewartet haben: „Stell dir vor, Hedda!“ Hedda möchte lieber nicht.

Sie hatte sich „müde getanzt“, so erklärt sie einmal dem Richter, der bei Tesmans den alerten Hausfreund gibt, das Zustandekommen dieser Ehe. Sie hatte sich müde getanzt, und da war dann gerade Jörgen Tesman zur Stelle, der gutmütige naive Fachgelehrte, dem man eine Professur in Aussicht gestellt hatte und der auf diese Weise wenigstens die materiellen Ansprüche seiner Frau zu befriedigen versprach. Aber Hedda langweilt sich schon jetzt. Was ihrem Mann seine Pantoffeln, das sind ihr zwei Pistolen, mit denen sie aus Überdruss im Haus herumknallt, bis der Richter ihr die Waffen fortnimmt.

Das Vorleben der Personen wird in Ibsens Stück nur leise angedeutet – man kannte sich auch früher schon: Hedda und der Konkurrent und Kollege ihres Mannes, Eilert Lövborg. Wo Tesman fleißig sammelt und sucht, exzerpiert und bibliografiert, da hält es Lövborg mit der genialischen Inspiration. Seine Methode verspricht wissenschaftlichen und populären Erfolg zu haben, und seine unangepasste Art fasziniert nicht nur seine Gelegenheitsmuse Thea Elvsted, sondern auch Hedda Tesman, die ihn als Hedda Gabler vielleicht einmal geliebt hat.

Jetzt rutscht sie aus der Langeweile beinahe unmerklich in einen inneren Kampf zwischen der sehr konkreten Angst vor einem Skandal und der etwas diffusen Sehnsucht nach Schönheit. Als schließlich ihr Plan fehlschlägt, stellvertretend für sie selbst Eilert Lövborg dieser Sehnsucht nachgeben zu lassen, da zieht sie die Konsequenzen und führt ihre vorherige Entwaffnung durch den Richter ad absurdum. Doch im Laufe der letzten anderthalb Stunden ist zu viel passiert, als dass man Heddas Selbstmord tatsächlich für die „wirklich freie und mutige Tat“ halten könnte, die sie sich vorher gewünscht hat.

Mein Theaterbegleiter hält sich nach dem Knall direkt neben ihm im Off das linke Ohr, aber diese Erfahrung wird ihn hinterher nicht hindern, von der „Unmittelbarkeit“ der Spielstätte zu schwärmen. Wir sind mittendrin: Wenn Sebastian Müller als Tesman seine unbedarften Ansichten äußert, dann zucken wir ebenso gequält zusammen wie seine Frau, denn wir teilen mit ihnen ihr Wohnzimmer. Wenn Anna Görgen als Hedda panisch beginnt, das Manuskript von Eilert Lövborgs zukünftigem Opus magnum aufzuessen, dann spüren wir ein leichtes Würgen in der Kehle. Und trotzdem wird die ganze Geschichte niemals zu intim, niemals zu distanzlos – das Raumkonzept von Textmarker funktioniert so gut, dass wir uns an keiner Stelle nach dem guten alten Guckkasten sehnen. Unsere Begeisterung reicht jetzt eine Weile. Nora kann bis zur nächsten Spielzeit warten.

„Hedda Gabler“ – Vorstellungen am 12./26./27. April und am 9./10./11./17./18. Mai jeweils 20 Uhr. Textmarker, Kopenhagener Straße 16, Kartenvorbestellung unter 49 85 33 04