: Des Schlafwandlers Wissen
Der Film und das Unbewusste: In der künstlerischen Arbeit von Javier Téllez, Teilnehmer der Ausstellung „Rational/Irrational“ im Haus der Kulturen der Welt, gehen sie eine tiefe Verbindung ein
Das Motiv des Trips auf die andere Seite spielte bei den Surrealisten, aber auch in den 70er-Jahren, in den Aussteigerträumen einer ganzen Generation, eine große Rolle. Daran knüpft die von Valerie Smith kuratierte Ausstellung „Rational/Irrational“ an, die wenig bekannte Positionen wie Juan Downey und Arthur Bispo do Rosário mit hiesigen Größen wie etwa Pawel Althammer zusammenbringt. bis 11. 1., Di.–So. 12–20 Uhr.
VON KATRIN BETTINA MÜLLER
„Patienten“, sagt Javier Téllez, „sind die besseren Übersetzer. Sie können die Sprache der Psychiater und des Klinikpersonals sehr gut nachahmen. Auf der anderen Seite ist diese Fähigkeit sehr selten vorhanden. Die Sprache der Institutionen ist nicht in der Lage, die nachzuahmen, die Objekt ihres dominanten Diskurses sind.“
Téllez’ zwanzigminütiger Film „Caligari und der Schlafwandler“ entstand im Auftrag des Hauses der Kulturen der Welt für die aktuelle Ausstellung „Rational/Irrational“. Er greift dabei auf den berühmten expressionistischen Stummfilm „Das Kabinett des Dr. Caligari“ (von 1919, Regie: Robert Wiene, Produzent: Erich Pommer), den ersten Film der Filmgeschichte über eine psychiatrische Anstalt überhaupt, zurück. Auch bei ihm ist Dr. Caligari ein Hypnotiseur, der mit Cesare, dem „Schlafwandler vom Sklavenstern“ arbeitet, der seine Prophezeiungen auf Schiefertafeln schreibt; aber anders als in der historischen Vorlage geht es nicht um ein Verbrechen. Téllez hat die Rollen des Films mit Patienten einer Klinik aus Berlin-Neukölln besetzt, die man auf der Leinwand zugleich als Zuschauer des Film allein in einem großen Kinosaal sitzen sieht. Im Off kommentieren sie die merkwürdigen Zustände und verschobenen Wahrnehmungen ihrer Protagonisten und setzen sich selbst dazu ins Verhältnis. „Wenn die Angst kommt, dann bin ich plötzlich im falschen Film“, erzählt der Darsteller des Caligari und benutzt dabei eine sehr populäre Redewendung, die das Unbewusste und das Kino zusammenbringt.
„Caligari und der Schlafwandler“ ist nicht der erste Film, für den der in Venezuela geborene Künstler mit Patienten einer psychiatrischen Klinik gearbeitet hat. Fast alle seine Projekte entstehen in enger Kollaboration mit Gruppen von Menschen, die von der Teilhabe an der Gesellschaft ausgeschlossen sind. In Sydney drehte er 2004 eine Fassung der „La Passion de Jeanne d’Arc“, in dem der Weg der Heiligen der Traum einer Patientin ist. Mit Blinden setzte er 2007 in New York einen Essay von Diderot, den „Letter on the Blind For the Use of Those Who See“ um.
Ein Akt der Empathie sind die Projekte von Javier Téllez dabei immer, aber über ein hilfloses Mitleiden, das oft das Verhältnis der funktionierenden Gesellschaftsteile zu ihren marginalisierten Randgruppen bestimmt, gehen sie weit hinaus. Denn er bietet seinen Mitspieler eine andere Art der Repräsentation und ein Rollenspiel, das ihnen einen neuen Blick auf sich selbst ermöglicht.
Als Drehort hat Téllez den von Erich Mendelsohn in Potsdam gebauten Einsteinturm genutzt, eine Ikone der expressionistischen Architektur. So stellt sein Film auch die Verbundenheit zu einer Epoche der Kunst aus, die sich von den als krankhaft pathologisierten Störungen der Wahrnehmung inspirieren ließ und sie in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auch für die Beschreibung einer aus den Fugen geratenen Welt benutzte.
Das Interesse an dem großen Thema, wie die Gesellschaft mit ihren Außenseitern umgeht, ist für Téllez auch stark biografisch bedingt. Seine Eltern waren beide Psychiater und besonders sein Vater ein sehr gebildeter Mann, in dessen Bibliothek in Valencia mehr Bücher standen als in der venezolanischen Staatsbibliothek, wie er stolz erzählt.
Tatsächlich sind seine Werke oft voller Bezüge in die Geschichte von Kunst, Literatur, Philosophie und Film. Das lässt sich besonders an der Videoinstallation „Letter on the Blind For the Use of Those Who See“ verdeutlichen. In dieser Erzählung von Diderot ertasten Personen ohne Augenlicht Teile eines Elefanten und liefern davon sehr unterschiedliche Beschreibungen. Die klassische Interpretation der Geschichte zielt auf die Relativierung der Erkenntnis und die Unzuverlässigkeit subjektiver Wahrnehmung. Anders in Téllez’ Film, findet er doch in den fünf blinden Männern und einer Frau einer bereicherndes Spektrum der Wahrnehmung im Berühren, Riechen und Hören.
In der Rezeption werden die Werke von Téllez sehr leicht als eine Kritik an den Institutionen verstanden, in denen er seine Protagonisten findet. Eine solche Lesart übersieht aber, dass er deren Notwendigkeit gar nicht infrage stellen will. Ihn interessieren vor allem die eigene Sprache und die Wahrnehmungsformen seiner Protagonisten; er erfährt und erhält von ihnen etwas, dass er anders nicht finden könnte.
Téllez, der heute in New York lebt, war seit Ende der Neunzigerjahre auf vielen Biennalen und in thematischen Ausstellungen weltweit vertreten. Seine Arbeit der Inszenierung passt zu einem Trend des Re-Staging und Re-Enactment, einem Vermessen der Distanz zur Vergangenheit, einer Re-Lektüre von einst bedeutungsstiftenden Momenten der Kunst- und Geistesgeschichte. In diesem Sinn ist sein Werk ambitioniert und verlangt vom Zuschauer gewissermaßen, sich ebenso sicher in diesem Kanon zu bewegen. Dieser Anspruch geht nicht immer konform mit der Sehnsucht nach der Kollaboration mit seinen Protagonisten, befinden diese sich doch meist auf der Seite der sozial Benachteiligten. Aber in diesem Widerspruch wird eben jene Grenze wieder fühlbar, deren Überwindung Javier Téllez sich so leidenschaftlich verschrieben hat.
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