„Wir sehen in der EU keinen Erlöser“

Ungarns Ex-Ministerpräsident Gyula Horn hält ein „Nein“ seiner Landsleute zum EU-Beitritt für faktisch unmöglich – trotz vieler Ängste und dem Gefühl, „Bürger zweiter Klasse“ zu sein. Für die meisten Ungarn wird sich zunächst sowieso kaum was ändern

Interview ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Am Wochenende stimmt Ungarn über den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft ab. Sie fahren seit ungefähr zwei Monaten in Ungarn eine Aufklärungskampagne zum Thema EU-Beitritt. Welche Befürchtungen und Sorgen werden da angesprochen?

Gyula Horn: Das Erste ist, ob wir unsere Souveränität verlieren werden. Viele fragen sogar ganz unverblümt, ob der Warschauer Pakt zurückkommt. Die zweite Frage ist, was passiert mit den Löhnen, mit dem Geld und mit den Renten? Drittens, was passiert mit den Lebensmittelpreisen? Und viertens, welche Möglichkeiten bietet die EU im Hinblick auf Ausbildung, Studium und Jobs?

Gibt es Ängste, dass die Osteuropäer in Brüssel zukünftig als EU-Bürger zweiter Klasse angesehen werden könnten?

Ja, die gibt es. Dazu muss ich sagen, dass es westliche Äußerungen gegeben hat, die solche Ängste schüren. Zum Beispiel, dass die 15 momentanen Mitglieder keine Opfer mehr bringen können. Das ist falsch. Denn das ungarische Volk hat selbst Opfer erbracht, um die Kriterien zu erfüllen. Leider treffen wir da auf nicht allzu große Sensibilität bei den Altmitgliedern.

Experten und Politiker sehen den Beitritts Ungarns als relativ problemlos an, was die Folgen angeht. Weder wird die Landwirtschaft größtenteils umstrukturiert wie im Falle Polens, noch drohen große Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Wer wird von einem EU-Beitritt direkt betroffen sein?

Der Beitritt wird die Lebensverhältnisse der meisten Ungarn kaum verändern. Später, wenn sich durch ein Wirtschaftswachstum auch das Einkommensniveau erhöhen wird, werden sich Veränderungen ergeben. So zum Beispiel die Renten der heutigen Angestellten. Der Beitritt wird einige zehntausende, maximal einige hunderttausende Bürgerinnen und Bürger konkret betreffen, in erster Linie Unternehmer und Studenten.

Vor dem Irakkrieg stellten sich Ungarn und fünf andere Beitrittskandidaten im so genannten „Brief der Acht“ auf die Seite der USA, was in manchen EU-Staaten für Empörung sorgte. War das schon ein Testfall für die vergrößerte EU?

Ich glaube nicht, dass die ungarische Regierung erst Paris oder Berlin um Genehmigung bitten muss, wenn sie sich zu aktuellen Angelegenheiten äußern möchte. Was war denn eigentlich der Standpunkt der EU? Warum hat uns Herr Solana nicht besucht, mit uns gesprochen? Außer Frankreich und Deutschland hat die EU 13 weitere Mitglieder. Wurden alle konsultiert? Wir haben den Warschauer Pakt aufgelöst, weil wir damals der Sowjetunion ausgeliefert waren. Zukünftig wollen wir nicht wieder einer Macht ausgeliefert sein. Niemand wird gern belehrt, auch nicht die 10,5 Millionen Ungarn.

Aber in der EU gibt es erkennbar keinen Staat, der die Rolle der Sowjetunion einnehmen könnte oder wollte.

In Frankreich und Deutschland wurde gesagt, dass der „Brief der Acht“ den Beitritt Ungarns und der anderen Länder erschweren könnte.

Hat Sie die Replik des französischen Präsidenten Jacques Chirac beleidigt?

Ja, ich fühle mich persönlich beleidigt. Auch die kleinen Länder sind sensibel, nicht nur die großen. Für uns sind die Beziehungen zu den USA genauso wichtig wie die Beziehungen zu Deutschland. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Europa mit einer antiamerikanischen Grundüberzeugung nicht zurechtkommen wird, sehen wir es als unsere Pflicht, diese antiamerikanische Stimmung in Europa zu bremsen.

Im Moment befürworten rund 65 Prozent der Ungarinnen und Ungarn einen EU-Beitritt. Wird sich das jetzt ändern?

Theoretisch ist ein „Nein“ möglich, faktisch aber nicht. Wir müssen klar machen, dass unser Beitritt freiwillig sein wird. Nicht die EU hat uns gerufen, sondern wir haben uns gemeldet. Der 1. Mai 2004, das Beitrittsdatum, ist nicht das Ende der Mühen, sondern erst der Anfang.

Glauben Sie, es wird eines Tages etwas wie eine „europäische Identität“ geben?

Ich glaube schon. Aber das steht jetzt für uns nicht an erster Stelle. Wir Ungarn sehen in der EU keinen Erlöser oder das Goldene Kalb. Wir glauben, dass die Sache langsam reif wird.