Diagnose vom genetischen Hausarzt

Humangenetische Beratung – das klingt nach Durchsetzung der Norm, nach vorgeburtlichen Eingriffen und menschenfeindlicher Labormedizin. Die Praxis aber sieht ganz anders aus. „Wenn Sie wissen, warum Ihr Kind anders ist, ersparen Sie ihm vielleicht viele Untersuchungen“, so eine Ärztin

Die Diagnose hilft aber nicht gegen die Angst vor einer ungewissen Zukunft

taz ■ Sophie hat, so drückt es ihre Mutter aus, „ein bisschen zuviel im fünften Chromosom“. Der Wortschatz des Kindes ist erstaunlich, aber die Aussprache ist nicht die einer Achtjährigen. Auch motorisch würde man sie eher ins Kindergartenalter packen. Seit vier Jahren gibt es die präzise Diagnose, und eins hat es, so die Mutter Sabine Szabo, auf jeden Fall gebracht: „Die Ärzte lassen sie jetzt mehr in Ruhe.“

Als Sophie mit vier Jahren genetisch getestet wurde, gab es noch keine humangenetische Praxis in Bremen. „Es gibt den Facharzt ja erst seit 1995“, erklärt Stephanie Spranger, eine von inzwischen zwei niedergelassenen Ärztinnen am Ort. Spranger, die damals noch beim Kinderzentrum arbeitete, lernte Sophie und ihre Mutter Sabine Szabo bei der Frühförderung kennen. Sie riet dazu, Sophies Gene auf Vollständigkeit zu prüfen – obwohl die Mutter mit diesem Thema eigentlich durch war: „Als meine Tochter ein Jahr alt war, wurde sie bereits getestet. Sie konnte damals gerade mal sitzen. Kein Gedanke an stehen oder laufen.“ Damals habe sich zwar herausgestellt, dass „irgendetwas nicht stimme“, eine genauere Diagnose war zu diesem Zeitpunkt aber nicht möglich. „Und ich wollte es auch nicht genauer wissen, wir waren glücklich mit der Frühförderung, die wir bekommen haben, und damit genug.“

Spranger, die ihre Patienten heute in einer Praxis auf dem Gelände der St. Jürgen-Klinik betreut, hat für diese Haltung viel Verständnis: „Die Eltern durchlaufen Phasen. Erst gibt es das Erschrecken darüber, dass das Kind nicht so ist, wie erhofft. Dann akzeptieren sie ihr Kind, wie es ist, und sagen: Geh’ mir weg mit der Diagnostik. Und dann kommt oft eine Phase, in der es die Eltern doch wieder genauer wissen wollen“.

Eltern mit auffälligen Kindern seien daher häufige Nachfrager der humangenetischen Beratung. „Wenn ein Kind mehr als eine Auffälligkeit hat, also etwa eine besondere Ohrmuschel und einen Herzfehler, dann handelt es sich möglicherweise um einen genetischen Fehler“, erläutert Spranger. Dabei sei der äußere Eindruck, den sie von dem Kind gewönne, „sehr wichtig“. Man müsse das Labor „gezielt“ einsetzen. „Schrotschussdiagnostik funktioniert hier nicht.“ Oft sind die Abweichungen von einem ‚normalen‘ Satz Genen so minimal, dass man vorher eine Ahnung braucht, wonach man suchen soll.

Selten kämen Paare zu ihr, die sich aufs Geratewohl „checken lassen wollen“, um das Risiko eines behinderten Kindes zu minimieren. Dagegen gebe es Frauen, die sagten: „Ich will kein Kind – mein Bruder ist behindert, und ich trage das in mir.“ In solchen Fällen rät die Ärztin zum genetischen Test des Bruders, um zu prüfen, ob überhaupt ein erbliches Problem vorliegt. In der Regel seien die betroffenen Angehörigen bereit zum Test, aber es gebe auch den Fall, dass sie sich weigerten: „Klar, wir rühren dann ja an ein Problem, mit dem die Familie vielleicht schon ihren Frieden gemacht hat.“ Viel Einfühlungsvermögen sei daher gefragt. Die Vorstellung, Humangenetiker hantierten hauptsächlich mit Reagenzgläsern und sähen statt eines Menschen nur einen Haufen Chromosomen, ist weit entfernt von der Praxis der genetischen Beratung.

Obwohl man Stephanie Spranger ihre Begeisterung für die Laborabläufe anmerkt. „Ich wusste schon als Kind, dass ich etwas mit Humangenetik machen will. Da ist auf der einen Seite der intensive Kontakt mit Menschen, und auf der anderen Seite die spannende wissenschaftliche Forschung“, schwärmt sie.

Im bunt und freundlich eingerichteten Beratungszimmer neben den Laborräumen steht jede Menge Spielzeug rum. „Ein Gespräch dauert oft eine ganze Stunde, schließlich stehen die Eltern vor einer schwerwiegenden Entscheidung: „Wenn sie den Test wollen, haben sie hinterher möglicherweise eine irreversible Diagnose. Wir können einen Gendefekt ja nicht heilen.“ Und so gebe es auch immer wieder den Fall, in dem Eltern sich dann doch gegen den Test entscheiden. Aber oft ist Klarheit auch von Vorteil: Wer genau weiß, warum sein Kind anders ist, erspart ihm möglicherweise weitere Untersuchungen. „Meine Tochter ist für die Medizin ein Stück weit uninteressant geworden“, sagt etwa Sabine Szabo. Wenn sie heute mit einem epileptischen Anfall zum Arzt kommt, sagt sie: „Sophie hat einen Chromosomenfehler, dann nickt der Arzt, stellt das Medikament ein, und wir können wieder gehen.“ Vor der Diagnose sei sie mit ihrer Tochter bei zahlreichen Fachärzten gewesen, zu Spezialkliniken gereist, habe alle möglichen Tests gemacht. „Meine Tochter hat wirklich einschlägige Erfahrungen mit Ärzten gemacht.“

Die Ärztin riet dazu, Sophies Gene auf Vollständigkeit zu prüfen

Die Diagnose hilft aber nicht gegen die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Denn auch wenn man herausbekommen hat, welches Gen fehlerhaft ist, kennt man die Information nicht, die es trägt. „Wenn dort Infos zur Organentwicklung drauf sind, kann Sophie immer noch einen Komplettausfall kriegen“, formuliert die Mutter ihre größte Sorge.

Stephanie Spranger, die sich selbst als eine Art „genetischen Hausarzt“ solcher Patienten beschreibt, hat Sophies Fall dokumentiert und für die Fachwelt aufbereitet. Auch in der Hoffnung, von ähnlichen Fällen zu hören. Bis jetzt wurde diese Hoffnung nicht eingelöst. „Aber ich kann vielleicht denen, die irgendwann einmal in der Schwangerschaft erfahren, ihr Kind hat ein bisschen viel am fünften Chromosom, sagen: Sophie ist ein zauberhaftes Persönchen, das nicht einzuordnen ist, und es gibt keinen Grund, sich dieser Aufgabe nicht anzunehmen.“ Elke Heyduck