Biathlon spricht Deutsch

Täglich rund 25.000 Zuschauer haben die Biathlon-WM in Oberhof zu einem ziemlich einmaligen Wintersport-Spektakel für die ganze Familie gemacht. Trotz Waffen geht es dabei friedlich zu

AUS OBERHOF MATTI LIESKE

Als die Sportfans in den USA bei den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City der Biathleten gewahr wurden, waren sie äußerst amüsiert. Zu seltsam dünkten sie diese Gestalten, die wie eine groteske Jagdgesellschaft aus dem vorletzten Jahrhundert wirkten, die sich im Ausrüstershop geirrt hat. Sogar ein neugieriges Exemplar der in den Wäldern Utahs heimischen Wildkatze fand sich an der Strecke ein, legte sich bequem auf einen Baumast, schaute lange Zeit interessiert dem merkwürdigen Treiben zu und vergaß völlig, dass sie Menschenansammlungen eigentlich zu meiden pflegt, vor allem, wenn diese rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch machen. Ein Kuriosum ist Biathlon in den USA noch immer, und wenn in den kommenden Wochen die Weltcups in Lake Placid und Fort Kent stattfinden und sich an der Strecke nicht mal ein paar Wildkätzchen blicken lassen, werden die Athleten voller Wehmut an Oberhof zurück denken – auch wenn die Veranstaltung in Thüringen weniger eine Weltmeisterschaft als eine Art von Poirée-Festwochen darstellte.

Dabei war es ausgerechnet Salt Lake City, das dem Biathlon in Deutschland den letzten Kick zur Boom-Sportart verlieh. Zehn Millionen verfolgten damals den Olympiasieg der Frauenstaffel, seither gibt es fette Einschaltquoten, wann immer die hurtigen Flintenweiber und -männer die Ski unterschnallen und mit ihren Schießprügeln auf die Scheiben disln wie weiland Old Shatterhand auf die Kiowas. Nirgends sonst steht Biathlon so hoch im Kurs, kein Wunder also, dass es der einzige Sport ist, in dem sämtliche Spitzenkräfte die deutsche Sprache beherrschen. Den vorläufigen Höhepunkt des militaristisch angehauchten Waffenlaufs, dem sogar Radio-Liveübertragungen des Soldatensenders Andernach nach Kabul, Sarajevo und Prizren zuteil werden, bildete die WM in Oberhof, die neben Stoiber und Rau natürlich auch Kriegsminister Struck an den Grenzadler lockte. Dort steht „das modernste und beste Biathlonstadion, das wir haben“, räumte sogar der den deutschen Hegemoniebestrebungen eher reserviert gegenüber stehende Vorsitzende des Biathlon-Weltverbands IBU, der Norweger Anders Besseberg, ein, und da fand in den letzten Tagen eine WM der Superlative mit „fantastischem Publikum und fantastischer Atmosphäre“ (Besseberg) statt.

Wo sonst würden sich täglich 25.000 Leute in ein abgelegenes Eiszeitszenario begeben, dem stilecht ein Mammut am Eingang präsidiert, dort zehn Stunden zu gnadenloser Stimmungsmusik (Klarer WM-Hit: „Lebt denn der alte Holzmichel noch?“) schunkeln, um einen anderthalbstündigen Wettkampf zu sehen oder wegen Nebels wieder heimgeschickt zu werden? Während dieser Zeit verzehrt offiziellen Angaben zufolge jeder brav eine Bratwurst im Schnitt, trinkt einen Dreiviertelliter Glühwein und jubelt, jubelt, jubelt. Natürlich in erster Linie für die thüringischen Landeskinder, die gegen Ende mit dem Gold der Staffelaltmeister Frank Luck („Luckiiiii!“) und Sven Fischer („Fischfischfisch!!!?) sowie dem Silber von Katrin Apel hinter Poirée am Samstag beim Massenstart doch noch standesgemäß abräumten, dann für die anderen Deutschen, aber auch für alle anderen, sei es Liv Grete Poirée mit ihren vier Titeln oder die Italienerin Nathalie Santer, Letzte beim Massenstart.

Biathlon ist die ideale Sportart für den deutschen Fan, der am liebsten mit einer Fahne kommt und mit zweien geht, und der, während andere Nationen zwecks Anfeuerung eher singen, leidenschaftlich gern brüllt. „Das ist ein richtiges Gröhlen“, berichtet Sven Fischer von der Strecke und erzählt, dass ihm manche Kollegen sagen, er solle lieber nicht in ihrer Nähe laufen, das sei ihnen viel zu laut. Dabei gibt es beim Biathlon weder Teenie-Schwärme, wie sie im Skispringen vorherrschen – bei aller Wertschätzung, ein Luck oder Fischer taugt nun mal nicht fürs Bravo-Cover – noch die Après-Ski-Schickeria des alpinen Zirkus. Dafür kommen ältere Ehepaare, jüngere mit Kindern, die schon etwas reifere Jugend in kleinen Cliquen oder generationsübergreifende Familienverbände mit Opa und Enkelin. Ein gut gelauntes, bodenständiges, leidensfähiges Publikum, entschlossen, sich trotz aller Widrigkeiten zu amüsieren, loyal, fair und friedfertig. Nur acht kleine Straftaten wurden während der WM gemeldet.

Am Ende gab es fast nur strahlende Gesichter in Oberhof, nachdem es tatsächlich das Biathlonfest geworden war, das sich die Veranstalter, der Weltverband und nicht zuletzt das Fernsehen gewünscht hatten. Das hatte allerdings auch für den größten Missklang gesorgt, und Anders Besseberg ließ es sich nicht nehmen, diesen „technischen Fehler“ ausgiebig zu rügen: Im Überschwang des Glücks verharrte die ARD-Kamera am Ende der Männerstaffel konsequent auf dem klar führenden letzten deutschen Schützen Michael Greis und enthielt der Welt das packende Schießen um die restlichen Medaillen vor. Man spricht halt Deutsch im internationalen Biathlon.