Mister Pisa nimmt den Preis, dann teilt er aus

Frisch mit dem Theodor-Heuss-Preis ausgezeichnet, greift der Pisa-Erfinder die 16 deutschen Kultusminister an

STUTTGART taz ■ Wer hätte das gedacht? Der Theodor-Heuss-Preis geht 2003 überraschend an den hochrangigen Vertreter einer Wirtschaftsinstitution. Andreas Schleicher von der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) nahm am Wochenende im Stuttgarter Reithaus den Demokratiepreis seine Bemühungen entgegen, eine „strategische Neuordnung der Bildungssysteme“ zu schaffen. Bislang ging der Heuss-Preis nur an Vorzeigedemokraten wie Václav Havel, Jürgen Habermas oder Joachim Gauck.

Der 38-jährige Schleicher ist gebürtiger Hamburger und besser bekannt als Mister Pisa. Er hat für die OECD in Paris die internationale Schulstudie Pisa entworfen, die an den deutschen Schulen Ende 2001 eine beispiellose soziale Schieflage diagnostizierte: In keinem der 32 Teilnehmerstaaten sind Schulerfolg und Bildungsabschlüsse so sehr von der sozialen Herkunft abhängig wie in Deutschland.

Die Pisa-Studie hatte in den Bundesländern ein hektisches Reformunwesen ausgelöst. Schleicher kommentierte die Arbeit der Kultusminister in seiner Preisrede mit beißendem Spott: Bildungssysteme seien träge Tanker, ihre Ausrichtung könne man nicht ändern, wenn „16 Kapitäne pausenlos mit kurzfristig angelegten bildungspolitischen Reformmaßnahmen an Deck von einer Seite auf die andere laufen.“

Der Bildungsforscher übte grundsätzliche Kritik an der deutschen Schule: Sie rationiere über Zensuren den weiteren Zugang zu Bildung, indem sie Schülern den Aufstieg verbiete. Sie versuche „gute und schlechte Lerner frühzeitig zu selektieren“, anstatt ein integriertes Angebot zu machen. Eine „gigantische Bildungsbürokratie“ diktiere zudem den Schulen viel zu engmaschige Lehrpläne.

Als Beispiel für gelungene Schulmodelle verwies Schleicher auf die Preisträger der ebenfalls verliehenen Theodor-Heuss-Medaillen – sechs Schulen aus ganz Deutschland, die „die Probleme des deutschen Bildungssystems auf fantastische Art lösen“. Diese Schulen seien freilich nicht absichtsvolles Produkt des deutschen Bildungssystems, sondern oft gegen den zähen Widerstand der Schulverwaltungen erkämpfte Einzelbeispiele.

Animiert von der Theodor-Heuss-Stiftung nutzte ein Dutzend von Reformschulen die Preisverleihung zu einem „Aufruf für einen Verbund reformpädagogisch engagierter Schulen“ (www.BlickUeberDenZaun.de). Ziel ist es, sich mit Hilfe möglichst vieler Schulen für eine offene und demokratische Pädagogik in der öffentlichen Debatte einzusetzen. CHRISTIAN FÜLLER

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