ein amerikaner in berlin
: Arno Holschuh über Tempelhof

Stadtteil der Omas und der alten Weltordnung

Jetzt, wo mein Land Krieg führt und nur die Arbeitslosenzahlen noch unbegrenzte Möglichkeiten haben, ist es gut zu wissen, dass die Welt an einem Ort noch in Ordnung ist: in Tempelhof. Erst seit ein paar Wochen wohne ich hier. Zunächst tief beeindruckt von der Höflichkeit der Tempelhofer. Hier grüßen die Leute einander auf der Straße, über die Straße gehen sie nur bei Grün und Männer halten Damen noch die Tür auf. Ja, im Berliner Süden ist alles noch in Ordnung. Dachte ich.

Mittlerweile habe sich die älteren Damen, die mich anfangs an meine Omi erinnerten, zu einer Art ehrenamtlicher Sittenpolizei entwickelt. Mein erster Verdacht regte sich, als ich in einer der ungefähr 3.000 Drogerien entlang des Tempelhofer Damms Seife kaufen wollte. Wieder draußen, wurde ich Zeuge einer unschönen Szene: Ein Mann vergisst, einer älteren Frau die Tür zu öffnen. Die protestiert: „Junger Mann! So eine Frechheit! Haben Sie denn keine Manieren! Also, so was Unerhörtes!“ Der Regenschirm zappelte schon prügelbereit in ihrer Hand. „Sorry“, murmelte der Mann und kroch weg. Mit eingezogenem Schwanz.

Hund zu sein hätte im Umgang mit den Tempelhoferinnen sogar einen Vorteil; schließlich genießen Vierbeiner große Toleranz. Die Damen stört es nicht, wenn Fiffi seine Notdurft auf offener Straße verrichtet, mir würden sie das nie gestatten. Doch Doppelmoral in den Köpfen ist, einmal eingenistet, kaum noch wegzudenken. Ich weiß das aus der Außenpolitik meines Landes.

Also halte ich die Türen jetzt zehn Minuten lang offen. Auch ich bin ein „junger Mann“, und sicher ist sicher.

Ein anderes Erlebnis hatte ich beim Briefmarkenkauf. Eine lange Schlange. Als ein Mädchen reinkommt und sich aus Versehen Richtung Schalter bewegt, wagt sich eine rüstige, kleine Frau aus der Reihe. Sie opfert ihren wertvollen Platz nur, um dem Mädchen zu sagen, dass es bitte gefälligst zu warten hat. Nachdem die allgemeine Fairness wieder hergestellt war, blieb die Frau in ihrer Rolle als Ordner. Offensichtlich hatte sie den ursprünglichen Zweck ihres Besuches bei der Post vergessen. Sie blieb neben der Schlange stehen, Hände hinter dem Rücken, wachsame Augen. Als ich endlich meine Marken kaufe und auf die Straße gehe, ist die Postmahnwache immer noch da.

In meinem alten Kreuzberger Kiez gilt in der Post das Gesetz des Dschungels: Wer als Erster einen offenen Schalter sieht, läuft hin. Das ist witzig, da ich mir immer vorkam, als ob ich bei einer Game-Show wäre. Erster Preis: eine schlecht gelaunte Postbeamtin. Und die alten Frauen sind immer misstrauisch, wenn ich die Tür aufhalte. Wahrscheinlich erwarteten sie, dass ich anschließend versuche, ihnen die neue Ausgabe der Motz anzudrehen.

Natürlich gibt es auch junge Leute in Tempelhof. Aber sie sind, wie ich, eingeschüchtert. Wir laufen alle mit eingezogenen Schultern rum. Trotzdem fühle ich mich wohl, hier in Tempelhof. Mein Umzug könnte als strategischer Rückzug gedeutet werden, weil das Klima in Kreuzberg für mich als Amerikaner rauer geworden ist. Vor ein Paar Wochen hing ein Transparent „Stoppt den Amerikanischen Angriffkrieg“ an der Fassade des Nachbarhauses gegenüber. Jetzt hängt dort nur noch „Ami Go Home“. Tja, in Tempelhof ist man so höflich. Hatte das nicht mal was mit der alten Weltordnung zu tun?