Der Anwalt

„Ein echter ehemaliger Polizist schickt mir ein Lügengeständnis. Ich habe meinen Augen nicht getraut, als ich die Mail in meiner Abgeordnetenpost entdeckte. Als Strafverteidiger in politischen Prozessen hatte ich oft den Eindruck, dass Polizisten falsch aussagen. In weit schlimmeren Fällen als dem vorliegenden, in dem es ,nur‘ um eine Beleidigung ging. Aber an ein konkretes Geständnis eines Lügenkomplotts aus Gewissensbissen kann ich mich nicht erinnern.

In den Achtzigerjahren habe ich viele Leute verteidigt, die bei Demonstrationen und Aktionen gegen Raketenstationierung oder den Bau von Atomkraftwerken festgenommen wurden.

Es war die Zeit der unerbittlichen Konfrontationen der Polizei mit den Demonstranten der großen sozialen Bewegungen. Da wurden Straßen und Stationierungsorte blockiert, Bauplätze und Häuser besetzt. Die Polizei riegelte Stadtteile und ganze Regionen ab, kesselte Demonstranten ein und ging mit großer Härte häufig nach militärischen Einsatzregeln vor.

In den folgenden Strafprozessen gegen Demonstranten mussten zur Abschreckung Verurteilungen her. Immer wieder waren wir dabei mit Aussagen von Polizisten konfrontiert, die nicht stimmen konnten.

In trauriger Erinnerung ist mir eine besondere Gemeinheit. Ein Mandant berichtete, wie es ihm nach seiner Festnahme erging: Ein Polizist hielt ihn rechts, der andere links, während ein dritter sich Handschuhe anzog und ihm mehrfach mit der Faust ins Gesicht schlug. Vor der Festnahme war der Mann unversehrt, danach schwer verletzt. Vor Gericht sagten die Polizisten, der Festgenommene sei auf dem Weg zur Wache absichtlich mit dem Kopf gegen eine Eisentür gelaufen. Verurteilt wurde der Verletzte – wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt.

Die Gerichte haben Polizeibeamten in der Regel geglaubt, obwohl die Aussagen aus den geschlossenen Einheiten häufig offensichtlich von Corpsgeist und Kameradschaft geprägt waren. Uns Anwälten blieb nur, Widersprüche aufzuzeigen, Falschaussagen konnten wir nicht beweisen. Es gab Richter, die dann nicht verurteilten. Aber das war die absolute Ausnahme.

‚Sei vorsichtig‘, habe ich Mandaten gewarnt, wenn sie gegen Polizisten vorgehen wollten. ‚Hast du Zeugen? Gibt es Fotos?‘ Wenn nicht, habe ich von Strafanzeigen abgeraten, um die übliche Reaktion mit Gegenanzeigen zu vermeiden.

Seither fordern wir mit Bürgerrechtlern die individuelle Kennzeichnung der Polizisten in geschlossenen Einsätzen. Die amtliche Vermummung mit Uniform, Helm und Gesichtsschutz verhindert die Identifizierung eines Straftäters aus den Reihen der Polizei. Aber kein Bundesland traut sich bisher, diese Forderung umzusetzen.

Heute bemüht man sich, harten Konfrontationen von Polizei und Demonstranten entgegenzuwirken – und es gibt viel mehr Beweismittel, wie Fotos und Videos.

Aber zu Falschbeschuldigungen durch Sicherheitskräfte kommt es immer noch. In meinem letzten Fall als Strafverteidiger habe ich es erlebt. Für einen Angeklagten gibt es kaum etwas Gemeineres, als zuerst zusammengeschlagen und dann aufgrund einer Falschaussage auch noch zu Unrecht verurteilt zu werden. Kein Wunder, wenn ein Justizopfer nach so einer Erfahrung mit dem Rechtsstaat fertig ist.“

Christian Ströbele, 69, ist seit 1967 Rechtsanwalt. Im Bundestag, wo er seit 1998 für die Grünen sitzt, ist er unter anderem für Polizei und Sicherheitsdienste zuständig.