Einblicke und Fallstricke

Die verwischten Grenzen zwischen Anklage und Parodie und andere coole Abweichungen: „Berlin North“ im Hamburger Bahnhof versammelt 26 Künstler aus den nordischen Ländern, bei denen Spaß, Spott und Kritik fließend ineinander übergehen

VON HARALD FRICKE

Wirtschaftlich ist Berlin ein Zwerg unter den Großstädten. Nur kulturell ist einiges in Bewegung, von der Biennale bis zur MoMA-Ausstellung, die am Freitag eröffnet. Offenbar kann Berlin sich zumindest in der Kunst auf internationale Beziehungen verlassen. Der norwegische Künstler Lars O. Ramberg hat über dieses Verhältnis nachgedacht, als er im Rahmen von „Berlin North“ eingeladen wurde, um seine Arbeit im Hamburger Bahnhof zu präsentieren. Jetzt steht dort in roten Neonbuchstaben weithin sichtbar leuchtend ein Wort auf dem Dach: Fremdgehen. Das klingt erst mal harmlos, nach ungeordneten Liebeleien unter Teenagern. Aber Ramberg hat eine andere Affäre im Sinn. Während der Okkupation im Zweiten Weltkrieg wurden so die Verbindungen zwischen norwegischen Frauen und deutschen Besatzern bezeichnet.

Trotzdem ist an „Berlin North“ nichts sonderlich heikel. Man gehört zusammen, auf dem Faltblatt zur Ausstellung sind die Botschaften der skandinavischen Länder als Partnerinstitutionen stolz mit Staatswappen vertreten. Im vereinigten Europa hat Kunst aus dem Norden Vorbildfunktion, auch wenn es angesichts der verschärften Einwanderungspolitik an der Offenheit Skandinaviens allmählich Zweifel gibt. Bei „Berlin North“ kommt dieser Wandel nicht vor. Statt dessen ist die Freude über so viel nachbarschaftliche Nähe groß, zumal sich nach dem Mauerfall eine eigenständige skandinavische Künstler-Community in Berlin angesiedelt hat. Das Künstlerhaus Bethanien führt mit Skandinavien seit Jahren ein gut funktionierendes Austauschprogramm, zudem sind mit c/o Atle Gerhardsen, Nordenhake und Sparwasser HQ drei Galerien aus Dänemark und Schweden hier ansässig geworden.

Überhaupt lebt knapp die Hälfte der insgesamt 26 an „Berlin North“ beteiligten Künstler und Künstlerinnen in Berlin. Manche pendeln noch, für andere ist die Stadt ein strategisch hervorragend gelegener Stützpunkt geworden: Die Mieten sind niedriger als in London, das Bier ist billiger als in Malmö, und die New Yorker Museumsleute, die am Wochenende zur Berlin Biennale kamen, haben selbstverständlich auch bei „Berlin North“ vorbeigeschaut.

Keine Frage, die Ökonomie der Aufmerksamkeit stimmt in Berlin. Schon deshalb ist das hintergründig gemeinte Statement von Ramberg nicht unbedingt eine Mahnung angesichts historisch kontaminierter Bündnisse. Eher schon kann man darin eine ironische Anspielung erkennen, bei der die ursprünglich ernste Angelegenheit durchschimmert, deren politische Tragweite jedoch längst ausgestanden ist. Denn dann hätte Ramberg wohl auch erklären müssen, wo im Bezug zur gegenwärtigen Situation die Grenze zwischen Parodie und Anklage liegt. Schließlich wird mit Fremdgehen ja gemeinhin kein Zwang beschrieben, sondern ein lustvolles Abenteuer – oder sollte die Liebe zum Fremden in der globalen Gemeinschaft den negativen Beiklang der Kollaboration haben? So bleibt Rambergs griffige Parole am Ende ein Scherz: mit säuerlichem Beigeschmack zwar, doch ohne böse Absicht. Das muss jede Freundschaft aushalten.

In der Ausstellung finden sich eine ganze Reihe an Beispielen, bei denen Spaß, Spott und Kritik fließend ineinander übergehen. Offenbar ist es unter Künstlern aus Skandinavien sehr beliebt, konsequent uneindeutig zu sein. A K Dolven zeigt in ihrer Filmprojektion vier Menschen nackt auf einem Felsen am Meer sitzen. Nach ein paar Sekunden fällt einem auf, dass ihre Gliedmaßen fehlen, nur der Torso ist zu sehen. Ob es sich um bizarre Deformationen oder um extrem artistische Körperbeherrschung handelt, lässt sich bis zum letzten Filmbild nicht ausmachen.

Jens Haaning weitet die Zwiespältigkeit der Wahrnehmung auf soziale Kontexte aus, wenn er für seine Projekte im öffentlichen Raum, die für Berlin mit Fotos dokumentiert sind, ein Verkehrshinweisschild in Utrecht mit der Entfernungsangabe für Afghanistan aufstellt oder die Stühle eines Londoner Kunstvereins nach Karachi transportieren lässt, damit sich Pakistaner die Plastikmöbel umsonst mitnehmen können. Einerseits wird bei Haaning die Kluft zwischen den verschiedenen kulturellen Codes und Gepflogenheiten erkennbar, zum anderen werden die Objekte und Zeichen vor Ort bewusst als Fremdkörper positioniert.

Überall sind im Hamburger Bahnhof solche Fallstricke ausgelegt: Je gegenläufiger die Konnotation, umso willkommener. Für seine Installation „Architektonische Zweifel“ hat Knut Henrik Henriksens die riesige Eingangshalle komplett mit Holzlatten zugebaut, als Monument der Minimal Art und gleichermaßen als Karikatur schwedischer Massenproduktion, im „Billy“-Look von Ikea. Bei Henrik Hakansson wird wiederum Natur in der Stadt einmal mehr als Erfahrung aus zweiter Hand inszeniert: Sein Wald besteht aus Metallstangen, an denen Bildschirme befestigt sind, auf denen Videos von eifrig ihr Revier verteidigenden Singvögeln laufen. Doch die Verfremdung liefert kein Symbol für die Widersprüche zwischen authentischem und künstlichem Lebensraum der Tiere. Hakansson benutzt lediglich ein Klischee, bei dem sich der Gegensatz effektvoll in der Überspitzung aufhebt.

Diese Art Paarbildung von Unvereinbarem nutzt sich bei „Berlin North“ ziemlich schnell ab. Man versteht den absurden Humor, denkt ständig den doppelten Boden mit, nur das Interesse an der Auseinandersetzung geht bei so viel cooler Abweichung verloren. Wie in einem Spiegelkabinett findet man sich in der unentwegten Verzerrung irgendwann doch ziemlich gut zurecht. Dann wundert man sich nicht, wenn in dem auf drei Leinwände rundum projizierten Video „The House“ von Eija-Lisa Ahtila Autos über die Tapeten fahren. Im Film ist die Verwirrung der weiblichen Hauptfigur groß, die den Wahnwitz der eigenen Wahrnehmung ertragen muss. Der Betrachter dagegen ist immer schon im Bilde.

Bis 12. 4., Di.–Fr. 10–18, Sa.–So.11–18 Uhr, Hamburger Bahnhof,Invalidenstr. 50–51, Tiergarten;Katalogschuber: 25 Euro