Alles eine Frage der Motivation

In Cottbus funktioniert das Pflegesystem schon fast ohne Zivildienst Leistende „Früher waren die Zivis motivierter und hatten mehr Eigeninitiative“ sagt Yvonne Pachl

AUS COTTBUS UND POTSDAM FRIEDERIKE GRÄFF

Eberhard Schultka, der Geschäftsführer der M.E.D. Gesellschaft für Altenpflege, trägt ein zart rosafarbenes Hemd, es ist etwa die Farbe, die auch das Pflegeheim Sachsendorf hat. Links ist eine Bäckerei eingezogen, rechts eine Apotheke, und in den Blumenkästen vor den Fenstern steckt Tannengrün; es ist eine rosafarbene Insel im trüben Meer der schmutzig weißen Plattenbauten ringsum. Das Pflegeheim Sachsendorf ist das erste, das nach der Wende in Cottbus saniert wurde, darauf ist Eberhard Schultka stolz, und es ist das erste, das bald ohne Zivildienst Leistende arbeiten wird. „Die Zivis sind im Lauf der Jahre immer teurer geworden“, sagt Schultka. „Und was bekommt man dafür?“

Ein paar gute Zivis, so scheint es, und viele unmotivierte. Das sagt zumindest Geschäftsführer Schultka. „Es sind viele, die ihre Pflichten nicht wahrnehmen, aber ihre Rechte kennen sie alle.“ Er erzählt von denjenigen, die zu spät zum Dienst kommen, die sich wochenlang krankschreiben lassen oder nach einem Tag nicht wieder zum Dienst erscheinen. „Wir haben keine Handhabe gegen Bummelei.“ Denn das Pflegeheim ist nur die Einsatzstelle der Zivildienstleistenden, Arbeitgeber ist das Bundesamt für Zivildienst. „Bis ein Disziplinarverfahren anfängt, dauert es ewig, und die 50 Euro Strafe jucken die Zivis sowieso nicht.“ Dazu kommt die Verkürzung des Zivildiensts auf neun Monate – „Wenn sie gerade richtig da sind, müssen sie wieder gehen“ –, und so ist für Eberhard Schultka die Rechnung nicht länger aufgegangen.

Bei Schultka funktioniert das Pflegesystem schon fast ohne Zivildienstleistende. Es ist eine Art Glaubensfrage: Viele fürchten, dass ohne Zivis alles zusammenbricht, für andere geht es ohne Zivis sogar besser und hat auch Perspektive. Schließlich plädieren immer mehr für ein Ende der Wehrpflicht. Wenn aber die Wehrplicht wegfällt, ist auch der Zivildienst nicht mehr zu halten.

Schultka ist Jurist, ein praktisch denkender Mensch, und vor einem Jahr hat er entschieden, dass die Investition in Azubis sinnvoller ist als die in Zivildienstleistende. Aus den neunzehn Zivis, die 2002 in Sachsendorf waren, ist ein Einziger geworden, dafür haben acht Azubis, sieben junge Frauen und ein Mann, einen Vertrag bekommen. Jetzt kann man unter den Bewerbern auswählen: Genommen werden diejenigen, die bereits eine zweijährige Ausbildung als Sozialhilfeassistent absolviert haben. „Sie sind durchgängig motivierter“, meint Schultka. „Und wir tun etwas für den Fachnachwuchs.“

Von den acht Azubis werden vier über die Mittel finanziert, die zuvor für die Zivis verwendet wurden, die Kosten für die Übrigen werden auf die Heimbewohner umgelegt, die jetzt 16 Euro mehr pro Monat zahlen. Dafür hatten nicht alle Angehörigen Verständnis. Und die Bewohner? „Es gab nichts Negatives“, sagt Eberhard Schultka und präzisiert: „Die zehn oder zwölf, mit denen man sich unterhalten kann, finden es gut.“

Die Idee, Arbeitslose auf Zivilddienststellen zu schicken, hält er für keine gute Lösung. „Altenpflege ist doch ein sehr spezieller Bereich“, sagt er knapp. Ohne eigene Motivation gehe da nichts. Freiwillig habe sich jedenfalls bei ihm noch kein Langzeitarbeitsloser beworben.

Alexander Lehmann ist der letzte Zivildienst Leistende in Sachsendorf, 21 Jahre alt, gelernter Stukkateur mit tätowierten Armen und einem freundlichen Jungengesicht. Auf dem Flur seiner Station spielen drei Bewohner „Mensch, ärgere dich nicht!“, man hört den Würfel laut auf den Tisch fallen, aber man hört die Spieler nicht lachen, sie spielen, als gehörte es zu ihren Pflichten. „Altenpflege hat mich schon früher interessiert“, sagt Alexander Lehmann, während er im Schwesternzimmer nach einem zweiten Stuhl sucht, „und als Stukkateur hat man hier wenig Aussicht.“

Seinen Vorgänger hat er noch ein paar Wochen erlebt, der freute sich schon aufs Ende. „Er hat sich ein bisschen hängen lassen“, meint Alexander Lehmann. Er selbst könnte das nicht, schließlich möchte er als Hilfspfleger bleiben, den Antrag hat er schon geschrieben. Auf dem Gang klopft ihm ein Mann in Trainingsjacke, einer der wenigen, die ansprechbar sind, auf die Schulter, und dann geht Alexander Lehmann ins nächste Zimmer, vorbei an einer Dame, die vor sich hin murmelt: „Ich weiß nicht, wo ich hinsoll.“

Ines-Madeleine Refalski arbeitet mit Alexander Lehmann auf einer Station, eine heitere Frau mit roten Locken, die sich an sehr unterschiedliche Zivis erinnert. „Auf manche konnten wir uns richtig verlassen, auf andere eher nicht. Von zehn waren vielleicht zwei nichts.“ Von diesen zweien erzählt sie das, was schon Eberhard Schultka erzählt hat: Morgens hätten sie verschlafen, seien ein bisschen „dumpfig“ gewesen, einer sei sogar ausfällig geworden. Bei den guten Zivis sah das anders aus: Sie hätten das Leben von draußen mit ins Heim gebracht, und sei es nur durch ihren Jugendslang, bei dem die Schwestern die Augen verdrehten, aber den Bewohnern habe es gefallen, zumindest nach kurzer Gewöhnung.

Bei den Azubis haben sie weniger Zeit zum Sichgewöhnen, denn die bleiben jeweils nur ein bis zwei Monate im Pflegeheim, um dann wieder zur Berufsschule nach Eisenhüttenstadt zu gehen. Kaum sind sie heimisch im Team, müssen sie schon wieder weg, heißt es bei den Kollegen. Dafür sind die Azubis fachlich fitter, und das Problem mit den vielen Krankheitstagen stellt sich bei ihnen nicht: Laut Praktikumsvertrag kann ihnen bei zu vielen Fehlzeiten gekündigt werden.

Yvonne Pachl in Potsdam hat bislang keine Probleme mit krankfeiernden Zivis gehabt. Sie ist darauf angewiesen, dass die jungen Männer zuverlässig kommen, sonst bricht der sorgfältig geplante Alltag mit ihrem 19-jährigen Sohn Robert zusammen. Robert ist mit dem Langdon-Down-Syndrom sowie einem schweren Herzfehler zur Welt gekommen und wird rund um die Uhr betreut. „Ich war die erste Mutter in Potsdam mit einem Zivi“, sagt Yvonne Pachl und legt eine Mappe mit Zeitungsausschnitten auf den Wohnzimmertisch. 1993 hat das Sozialamt 21 Zivi-Wochenstunden bewilligt, 21 Stunden, die Robert helfen sollen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, sich auf die Schule vorzubereiten und sich allmählich von seinem Elternhaus abzunabeln.

Max Beer, seit einem halben Jahr Zivi bei den Pachls, steht auf Strümpfen in der Küche und hantiert mit dem Bild, das Robert gerade gemalt hat. Zuerst hatte er eine unaufwändige Stelle im Fahrdienst gesucht. Vergeblich. Erst danach meldete er sich bei der ASbH, der Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus, die in Potsdam Schwerstbehindertenbetreuung organisiert. „Es ist eine Erfahrung, die ich jedem empfehlen kann“, sagt er. „Es macht mehr Spaß, direkt mit Menschen umzugehen, statt dumm durch die Gegend zu fahren.“

Robert schiebt ihn zur Seite, um das Cover einer seiner Lieblingsplatten vorzuzeigen. „Ich mache Robert Vorschläge“, sagt Max. Man könnte auch sagen, er motiviert ihn: aufzustehen, Brote selbst zu schmieren, deutlich zu sprechen, spazieren zu gehen. Er hilft beim Praktischen, beim Anziehen für die Schule oder beim Eincremen, aber er ist auch Zuschauer, wenn Robert plötzlich mit den Armen rudert und auf einem Fantasieschlagzeug spielt. „Dass ich mal Spaß habe“, sagt Robert heiser. Er ist schwer zu verstehen, aber Max hat sich rasch auf ihn eingestellt. „Er ist ein umgänglicher Typ, er hatte sofort ein gewisses Vertrauen.“

Zu einigen der früheren Zivis hat die Familie noch heute Kontakt, die vertrautesten lädt sie einmal im Jahr zum Ehemaligentreffen ein. Bei anderen macht Yvonne Pachl kleine Abstriche: „Früher waren die Zivis motivierter und hatten mehr Eigeninitiative. Heute muss ich ihnen eher sagen, was sie zu tun haben.“ Trotzdem ist ihre Bilanz positiv: Robert lernt jede Woche dazu, er findet neue Worte, wird selbstständiger, während sie trotz des schwerbehinderten Kindes berufstätig ist.

Anfangs wurde das Modell von anderen Familien mit behinderten Kindern eher misstrauisch betrachtet, mittlerweile haben mehrere einen Zivi, der zu ihnen nach Hause kommt. Würde der Zivildienst gestrichen, dann müssten ambulante Einrichtungen wie die ASbH Freiwillige und vor allem qualifizierte, aber preisgünstige Pflegekräfte suchen. Aber wer arbeitet für die 400 Euro, die die jeweilige Einsatzstelle berappen könnte, acht Stunden pro Tag, und das einen ganzen Monat?

„Wenn sich der Bund aus der finanziellen Pflicht zurückzieht, würde das bedeuten, dass viele behinderte Menschen zurück ins Heim müssten“, sagt Gabi Franke, die Projektleiterin der individuellen Schwerstbehindertenbetreuung der ASbH in Potsdam. Die Betreuung zu Hause würde schlichtweg zu teuer. Es sei denn, der Bund würde die 885 Millionen Euro, die er im letzten Jahr für den Zivildienst ausgegeben hat, weiterhin an all die Einrichtungen, die sich dann ohne Zivildienst Leistende behelfen müssen, bezahlen. „Der Bund muss in die Pflicht genommen werden“, sagt Gabi Franke und spricht zum zweiten Mal von Pflicht, damit kein Zweifel besteht, dass die Fortzahlung keine Möglichkeit, sondern Notwendigkeit ist.