Unter der brütenden Sonne

Rodrigo Garcías Episodenfilm „Gefühle, die man sieht …“ lässt den prominenten Darstellerinnen viel Freiraum

In Cannes lief „Gefühle, die man sieht …“ in der Reihe „Un certain regard“. In amerikanischen Magazinen wurde Rodrigo Garcías Debüt begeistert besprochen. Doch in die amerikanischen Kinos schaffte es der Film nicht. Die Studiobosse wussten nicht, wie sie ihn vermarkten sollten. Also wurde der Film, der im Original „Things You Can Tell Just By Looking At Her“ heißt, lediglich in den Kabelprogrammen gezeigt und später als Video verwertet. Man mag daher annehmen, dass es sich um einen vergleichsweise schwierigen Film handelt. Wenn man dabei Werke wie „The Core“ oder „Daredevil“ zum Maßstab nimmt, hat man mit dieser Annahme sogar zweifelsfrei Recht.

„Gefühle, die man sieht …“ ist zunächst ein Episodenfilm, der fünf Momentaufnahmen lose miteinander verknüpft. Der Ort des Geschehens ist das San Fernando Valley in Los Angeles, eine Umgebung, die ebenso für vorstädtische Gemütlichkeit wie auch für kühle Büroparks steht, in denen die Einsamkeit selbst unter brütender Sonne wächst und gedeiht. Die Momentaufnahmen verbindet dabei nicht der Hauch eines dramaturgischen Kniffs, vielmehr sieht es so aus, als hätte sich Rodrigo García nicht einmal bemüht, eine allzu deutlichere Verbindung herzustellen. „Gefühle, die man sieht …“ lebt eher von scheinbaren Zufällen und jener beiläufigen Zusammenhangslosigkeit, die man auch aus dem wirklichen Leben kennt.

Glenn Close spielt die Frauenärztin Dr. Elaine Keener, die ihre altersschwache Mutter pflegt und sich von Christine (Calista Flockhart) die Tarot-Karten legen lässt; die allein erziehende Mutter Rose (Kathy Baker) verliebt sich unterdessen in ihren kleinwüchsigen Nachbarn; die erfolgreiche Bankerin Rebecca (Holly Hunter) erfährt, dass sie von ihrem verheirateten Liebhaber schwanger ist und lässt anschließend eine Abtreibung vornehmen; die Kartenlegerin Christine sorgt sich um ihre sterbenskranke Frau (Valeria Golino) und erinnert sich an das gemeinsame Glück; die Polizistin Kathy (Amy Brenneman) untersucht einen Selbstmord und beginnt die Einsamkeit zu spüren, die das Leben mit ihrer blinden Schwester Carol (Cameron Diaz) prägt.

Während Rodrigo García seinen Schauspielerinnen jeden erdenklichen Freiraum gönnt, strahlt der Film ansonsten eine kühle Strenge aus, die hier besonders in den wundersam keimfreien Wohneinheiten steckt. Mit dem Kameramann Emmanuel Lubezki hat García sogar einen Meister der avanciert trostlosen Wohnungsfotografie gewinnen können, der jeden noch so großzügig geschnittenen Raum in ein schattiges, luxuriös möbliertes Gefängnis verwandeln kann, das man sich selbst unter dem Vorwand der Sicherheit schuf.

In diesem Sinne ist „Gefühle, die man sieht …“ dann auch nicht in erster Linie der Frauenfilm, für den man ihn möglicherweise hält, sondern ein Film über Fassaden und vermeintliche Gewissheiten, die bei den verschiedenen Figuren auf die eine oder andere Weise zerfallen. Und so bricht Rebecca schlussendlich zusammen, als sie nach vollzogener Abtreibung ihren Fußweg nach Hause antritt. Zunächst sieht man sie nur unsicher gehen, dann wanken, dann unter eruptiven Weinkrämpfen von der einen Seite zur anderen stolpern. Ihr Liebhaber hatte offenbar vergessen, sie wie versprochen aus dem Krankenhaus abzuholen. Dies ist nur eine von vielen eindrucksvollen Szenen. Dies ist aber auch eine Szene, die sich nach den Maßgaben des Hollywoodkinos wohl tatsächlich schlecht verkauft.

HARALD PETERS

„Gefühle, die man sieht...“. Regie: Rodrigo García. Mit Glenn Close, Cameron Diaz, Calista Flockhart, Holly Hunter, Kathy Baker u. a. USA 2000, 110 Min.