„Keiner hat versagt“

Die von IPPNW geschätzten Opferzahlen im Irak waren nicht übertrieben, sagt Pressesprecherin Ute Watermann

taz: IPPNW hatte für den Irakkrieg 250.000 Tote vorausgesagt. Die Zahl der Opfer ist viel geringer. Wer hat bei der Prognose versagt?

Ute Watermann: Die Frage stellt sich so nicht. Keiner hat versagt. Wir haben für den Krieg und die folgenden drei Monate bis zu 250.000 Tote prognostiziert. Dazu stehen wir auch jetzt. Die genauen Opferzahlen des Krieges kennt doch noch niemand. Wir wissen so ungefähr, wie viele Menschen durch Bomben getötet worden sind. Aber wie viele noch sterben werden, weil die Krankenhäuser durch Krieg und Plünderung zerstört worden sind, weiß keiner.

Die medizinische Versorgung im Irak war auch vor dem Krieg schlecht.

Sie war vorher besser als jetzt. Vor dem Krieg gab es zwar Probleme, Menschen mit aufwändigen Therapien zu versorgen. Aber im Krieg ist die Alltagsversorgung zusammengebrochen. Die Situation ist dramatisch.

Sie haben auch behauptet, die Invasionsarmeen würden gezielt Wasser und Stromversorgung unterbrechen. Auch das hat sich nicht bewahrheitet.

Unserer Studie lagen die Erfahrungen aus dem zweiten Golfkrieg zugrunde. Damals sind Wasser- und Stromwerke zerstört worden. Deshalb sind 1991 und später viele Kinder und Erwachsene an leicht behandelbaren Erkrankungen gestorben. Das mussten wir auch diesmal annehmen. Außerdem ist die Wasserversorgung in Bagdad derzeit unterbrochen. Ich sage noch einmal: Wir wissen nicht, wie viele noch sterben werden.

Setzen Sie sich mit dieser Aussage nicht erneut dem Vorwurf aus, Panik zu schüren?

Wir sind glücklich, dass dieser Krieg scheinbar weniger Opfer gefordert hat als befürchtet. Aber es wäre zynisch, zu sagen, die Zahlen seien zu gering.

Sicher. Aber fürchten Sie nicht, dass Ihre Prognosen künftig weniger ernst genommen werden?

Überhaupt nicht. Wir haben mit Opferzahlen zwischen 50.000 und 250.000 gerechnet. Diese Schätzung basierte auf wissenschaftlich korrekten Erhebungen. Wem das jetzt unseriös erscheint, dem kann ich nur entgegnen: Es gibt immer abweichende Entwicklungen, die auch seriöse Wissenschaftler überraschen. Wenn diese eintreten, heißt das nicht, dass unsere Arbeit mangelhaft war.

Aber Sie stehen jetzt als Schwarzmaler da. War es nicht ein Fehler, mit Maximalzahlen an die Öffentlichkeit zu gehen?

Wir haben die Gefahr gesehen, dass es zu den von uns genannten Opferzahlen kommen könnte. Und wenn wir solche Informationen aufgrund unseres ärztlichen Wissens haben, dann sind wir verpflichtet, sie herauszugeben.

Also erübrigt sich die Frage, ob IPPNW beim nächsten Mal konservativer schätzen wird?

Ja. Weil dieser Golfkrieg nicht so entsetzlich gelaufen ist, können wir sagen: Gott sei Dank. In unsere nächsten Studien werden diese neuen Erfahrungen natürlich einfließen. Ich würde mich aber von den aktuellen Fernsehbildern nicht beirren lassen. Jubelnde Frauen mit Kindern habe ich bisher wenige gesehen.

INTERVIEW: MATTHIAS BRAUN