Mord unter staatlicher Aufsicht

Ein Untersuchungsbericht beschuldigt britische Armee und nordirische Polizei der Zusammenarbeit mit protestantischen Todeskommandos. Fünf Jahre nach Abschluss des Karfreitagsabkommens liegt Nordirlands Friedensprozess auf Eis

aus Dublin RALF SOTSCHECK

Die britische Armee und Nordirlands Polizei haben über Jahrzehnte mit protestantischen Mordkommandos zusammengearbeitet und sind verantwortlich für den Tod zahlreicher Katholiken. Zu diesem Ergebnis ist ein Untersuchungsteam unter Leitung von John Stevens gelangt, dem höchstrangigen britischen Polizeibeamten.

Stevens machte am Mittwoch nur rund ein Fünftel seines 3.000 Seiten umfassenden Zwischenberichts öffentlich, da er die strafrechtliche Verfolgung von 57 Polizisten und Soldaten empfahl und die Gerichtsverfahren nicht beeinflussen wollte. Doch die Punkte, die er bekannt gab, sind schwerwiegend genug. Stevens beschuldigt die „Force Research Unit“ (FRU), eine geheime Armeeeinheit, sowie die nordirische Polizei, ihren Agenten in protestantischen Terrororganisationen nicht nur freie Hand bei Mordanschlägen gegeben, sondern sie auch mit Informationen über unliebsame Katholiken versorgt und die Spuren nach den Attentaten verwischt zu haben. Prominentestes Opfer war der Rechtsanwalt Pat Finucane, der 1989 in seinem Haus erschossen wurde. Die britische Armee war durch ihren Agenten Brian Nelson, der Ende März eines natürlichen Todes gestorben ist, über den geplanten Anschlag informiert, und auch die Polizei wusste Bescheid, weil ihr Agent William Stobie die Mordwaffe besorgt hatte. Stobie war bereit, vor Stevens auszusagen, wurde aber Anfang 2002 ermordet.

Finucanes Witwe Geraldine hat sich geweigert, mit Stevens zusammenzuarbeiten. Sie will stattdessen eine öffentliche und internationale Untersuchung, wie es auch die Vereinten Nationen 1998 gefordert haben.

Stevens versucht seit 14 Jahren, Licht in die Sache zu bringen. Inzwischen haben sich mehr als eine Million Dokumente angesammelt. Die FRU und die nordirische Polizei haben seine Arbeit systematisch sabotiert, sagte Stevens. Ein Feuer in seinem Büro, bei dem vor drei Jahren zahlreiche Unterlagen vernichtet wurden, war Brandstiftung, stellte Stevens fest. Seine Untersuchung, die bisher 4 Millionen Pfund gekostet hat, ist noch lange nicht zu Ende. Stevens will herausfinden, ob der damalige Polizeichef Ronnie Flanagan oder sogar die britische Regierung von den mörderischen Aktivitäten der Armee und Polizei wussten.

Der irische Innenminister Brian Cowen sagte gestern, der Stevens-Bericht sei „äußerst schwerwiegend“, stehe aber mit dem derzeitigen Friedensprozess in keinem Zusammenhang. Die Regierungen in London und Dublin versuchen seit zwei Wochen, die nordirischen Parteien zur Annahme eines Friedensplans zu bewegen. Dieser Plan, dessen Einzelheiten bisher nicht bekannt gemacht wurden, basiert auf dem Friedensabkommen, das am Karfreitag vor fünf Jahren in Belfast abgeschlossen worden ist. Im vergangenen Oktober suspendierte die britische Regierung das Belfaster Regionalparlament, weil die Irisch-Republikanische Armee (IRA) im Regierungsgebäude angeblich Spionage betrieben habe. Die Unionisten fordern die Auflösung der IRA, bevor sie mit deren politischen Flügel Sinn Féin wieder eine Mehrparteienregierung bilden wollen.

Die IRA hat vorigen Sonntag eine Erklärung abgegeben. Deren Inhalt ist nicht veröffentlicht worden, doch Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams misst ihr „beispiellose Bedeutung“ zu. Sie enthalte „positive Entwicklungen, wie es sie in keiner früheren IRA-Erklärung je gegeben“ habe. Den Unionisten reicht sie aber offenbar nicht aus, und so müssen die für den 29. Mai geplanten Wahlen vermutlich verschoben und der Friedensprozess bis Herbst auf Eis gelegt werden.