Scherenschnitte des Urbanen

Die vorsichtige Rückkehr zu den abgeschlossenen Strukturen der Vorkriegszeit: Die Schwarz- und Parzellenpläne der Berliner Innenstadt für die Jahre 1940 bis 2010 zeigen, wie sich die Stadt gewandelt hat. Der Trend geht zur kritischen Rekonstruktion

von CARSTEN WÜRMANN

Wie sehen Gedächtnislücken aus? Sind es schwarze Löcher in einem Gewirr von grauen Zellen? Schnitte durchs Hirn sind zumeist eine blutige Angelegenheit, und so entwickeln solche Vorstellungen eigentlich erst als Metaphern Charme: bei Berlin zum Beispiel. Nimmt man die gebaute Stadt als Erinnerungsraum, so wird der Stadtgrundriss zu ihrem Gedächtnis, die im Krieg gebombte Brache steht für Amnesien, und der die alte Stadtstruktur überbauende Neu- beziehungsweise Wiederaufbau repräsentiert Verdrängungsleistung. Dies offen zu legen bedarf es keiner pathologischen Operationen, sondern kartografischer Kunstgriffe.

Wie das aussehen kann, zeigt eine ansprechend gestaltete Publikation des Nicolai-Verlages. Entlang von fünf Zeitschnitten durch die Berliner Innenstadt dokumentieren 22 großformatige Schwarz- und Parzellenpläne den Baubestand der Jahre 1940, 1953, 1989, 2000 und 2010. Parzellenpläne zeichnen mit weißen Linien auf schwarzem Grund die Größe der Grundstücke und geben so Hinweise auf die Grundbesitzstruktur: große Neubauten benötigen arrondierten Boden, kleinteiligere Besitzverhältnisse versprechen größere Vielfalt. Schwarzpläne hingegen zeigen das Verhältnis von bebauter zu unbebauter Fläche. Auf ein Meter Höhe wird hierfür der Schnitt angesetzt: Alle Gebäude, die dabei geschnitten werden, werden schwarz wiedergegeben; die unbebauten Plätze, Straßen, Parks und Höfe bleiben weiß.

So entstehen Scherenschnitte des Urbanen, die Charakteristisches sichtbar machen, aber auch allein schon ästhetisch, losgelöst vom Dargestellten, ihren eigenen Reiz entwickeln. Damit man sich nicht völlig im Wechselspiel der Flächen verliert, liegen der Kassette drei Folien mit den Hauptstraßen und -namen bei, die die Orientierung auf diesen 30 Quadratkilometern Berliner Innenstadt zwischen Ernst-Reuter-Platz und Warschauer Straße sowie der Linie Alt-Moabit und Torstraße im Norden und der U 1 im Süden erleichtern.

Der Schwarzplan 1940. Deutschland führte bereits Krieg, aber die Folgen hatten Berlin noch nicht erreicht. Weiß liegt der Tiergarten, weiß sind die Gleisanlagen der großen Bahnhöfe, der Rest schwarzer Block, durchsetzt von kleinen weißen Hinterhöfen und Gärten. Ein steinernes Berlin, dessen Grundriss noch die mit den Jahrhunderten gewachsene Struktur erkennen lässt, die Gründungskerne von Berlin und Cölln, die barocken Erweiterungen des 17. Jahrhunderts und den gründerzeitlichen Ausbau in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

13 Jahre später: der Gebäudestand von 1953. Die Kriegsschäden sind abgeräumt, es dominiert das Weiße, Straßenzüge sind häufig nur noch zu erahnen. Ein weiterer Plan zieht den Vergleich, färbt die Kriegszerstörungen blau und zeigt, wie viele Viertel zerstört sind. Doch erst die Entscheidung, nach dem Krieg nicht wieder aufzubauen, sondern in den folgenden Jahrzehnten für den völligen Kahlschlag zu sorgen, veränderte das Bild Berlins: Vom alten Hansaviertel, den Quartieren östlich des Alexanderplatzes, auf der Fischerinsel, bleiben kaum mehr als Namen. Rot eingefärbt sind auf dem Plan von 2001 die Neubauten und diese Farbe Beherrscht das Zentrum, nur wenige Gegenden an den Rändern des Kartenausschnittes, in Moabit, jenseits der Oranienburger Straße und östlich des Oranienplatzes zeigen noch im größeren Maße ältere Bausubstanz.

Die verschiedenen Schwarzpläne veranschaulichen den grundsätzlichen Bruch der Nachkriegszeit. Während auf dem Plan von 1940 fast immer deutlich wird, wo die Straßen verlaufen, verschwindet auf den Plänen nach dem Wiederaufbau an vielen Orten die Klarheit, auf weißen Flächen stehen schmale schwarze Streifen senkrecht und quer zueinander.

Diese Pläne, die so detailliert die kriegs- und nachkriegsbedingten Verluste dokumentieren, sorgten auf der Architektur-Biennale für einiges Aufsehen, verweisen sie doch auf die zerstörerische Kehrseite des mit so vielen utopischen Hoffnungen verbundenen Städtebaus. Aus ihrer Kritik an bestimmten Nachkriegsentwickungen, die sich als ahistorische Irrwege herausstellten, machen auch die Beiträger des beiliegenden Bandes keinen Hehl. Sie werben für eine „kritische Rekonstruktion“ der historischen Stadt, wie sie seit den 90er-Jahren unter der Beteiligung des Herausgebers, des Berliner Senatsbaudirektors Hans Stimmann, im Planwerk Innenstadt zur Norm für den weiteren Berliner Stadtumbau wurde.

Folgerichtig zeigen die Pläne auch eine vorsichtige Rückkehr zu den zum öffentlichen Raum abgeschlossenen Strukturen der Vorkriegszeit. Eine Tendenz, die die Schwarzpläne nachhaltig befördern. Wer länger vor diesen Plänen sitzt, wird sich nur schwer davon zurückhalten können, einzeln herumstehende Gebäude mit Strichen zu schönen Blöcken zusammenzuführen, damit zumindest auf dem Papier die Augen der Betrachter sicher durch das Labyrinth geführt werden und sauber draußen und drinnen, öffentlich und privat trennen können. Was materialisiert die bessere Variante ist und wie die zukünftigen Lösungen jenseits „kritisch rekonstruierter“ Friedrichstraßenquartiere und Fischerinselhochhäusern mit großzügigen Grünanlagen aussehen könnten, davon kann sich dann jeder vor Ort sein Bild machen und mit den Plänen in der Hand in die Auseinandersetzung mit dem Gewesenen eintreten. Egal ob er oder sie damit, wie Klaus Hartung in seinem furiosen Essay wider die Stadtzerstörung hofft, zum vergangenheitsbewussten Flaneur oder aber umso kompetenter das Alte verachten lernt. Zu wissen, auf welchen historischen Boden man sich dabei bewegt, schadet nicht.

„Die gezeichnete Stadt. Die Physiognomie der Berliner Innenstadt in Schwarz- und Parzellenplänen 1940–2010“. Hrsg. von Hans Stimmann. Nicolai Verlag, Berlin 2002, 128 €