Nach der Überdosis Krieg

Überall noch die Zeichen des Protestes: der Irak, die Erfahrungen und das Gedächtnis der Friedensplakate

In Leipzig hat man die schönsten Antikriegsplakate schon ins Museum gesteckt. In Berlin hängen immer noch viele „Peace-“, „Pace-“ und „No War!“-Transparente in den Fenstern. Neben der Kirche auf dem Lausitzer Platz steht: „Völkerrechtsbrecher gehören vor das Welt-Gericht“, in der Karl-Marx-Allee gibt es Irakfahnen sowie die Gleichung „Kapitalismus=Krieg“. Im Fenster eines Hauses im Friedrichshain kleben neben Antikriegsplakaten welche, die für eine Pornoperformance im „Kit-Kat-Klub“ werben. Bei manchen Fenstern ist man sich sicher, dass da eine Woche zuvor noch nichts gehangen hatte, und man überlegt, wie das kommt, und auch, wann der Krieg zu Ende ging. Am 8. April, als sich die geheimdienstnahen russischen Kriegsanalysten (aeronautics.org) „ with unfailing respect to all of you“ von ihren Lesern verabschiedeten? Eine Woche später, als das Peace-Logo auf Viva verschwand? Oder läuft der Krieg sogar noch – Hollow Skai schreibt jedenfalls immer noch an seinem seltsamen Kriegstagebuch (skaichannel.de).

Viele hatten sich vor dem Fernseher eine Überdosis gegeben. Die schöne Frau, die mir neulich in der Oranienstraße ein Flugblatt in die Hand drückte und mich ganz persönlich dazu aufforderte, am Abend zur Demo gegen die Besatzung des Iraks zu kommen, lebte in einer anderen Welt als ich. Keine Ahnung, ob ihre Welt wirklicher war. Sie sagte „Du kommst doch.“

Das moderne Bewusstsein sei ständigen Schocks ausgesetzt, hat Walter Benjamin mal geschrieben; so bleibe ihm keine Zeit mehr, die Dinge angemessen zu verarbeiten, Erfahrungen zu bilden und diese Erfahrungen in Erzählungen zu verarbeiten. So ähnlich kam einem auch der Krieg gegen den Irak vor. Er ging zu schnell vorbei, als dass man angemessen darauf hätte reagieren können. Für den interessierten Zuschauer hier hat der Krieg drei Wochen gedauert; die Folgen dort werden sich über Generationen hinziehen. Hier belegt der Krieg Teile eines zu groß geratenen Kurzzeitgedächtnisses, wird sofort kapitalisiert – zum Beispiel mit Puppen des irakischen Informationsministers (welovetheiraqiinformationminister.com) – und dann wieder gelöscht wie bei George Orwell, um anderem Platz zu machen. Dort … ach was. Jedenfalls ist es schön, dass immer noch Peace-Zeichen in den Fenstern hängen, und wenn’s die Kinder waren, die dafür sind, die Friedenszeichen weiter hängen zu lassen, umso besser. Dann hätte sich was umgedreht; dann würden die Kinder plötzlich auf Seiten der Erfahrung die Fahne des Protests hochhalten, während die Erwachsenen, die nach dem Ende des Kriegs die Fahnen einholen wollen, einer kurzlebigen Mode aufgesessen wären.

Wir saßen in der Sonne beim Mexikaner, und die Bekannten sprachen über Bush, Irak, den Elften Neunten und schienen die Außenseiteransicht, der zufolge irgendwelche US-Geheimdienste die Flugzeuge selbst per Fernsteuerung ins WTC gelenkt hatten, ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Bush sei größen- und auch sonstwie wahnsinnig; dass er nun Syrien und danach den Iran angreifen wolle, war für sie eine ausgemachte Sache. „Die Bushs“ auf RTL2 wurden dagegen unterschiedlich bewertet. A. fand sie zu übertrieben. G. wunderte sich, dass „Die Bushs“ nicht verboten seien in einem Land, dessen Soldaten jeden Morgen für ihren Präsidenten zu beten pflegen, wie Matthias Bröckers neulich in der Berliner Zeitung schrieb. „Irgendwas stimmt da doch nicht, dass das immer noch erlaubt ist.“ Sein so genannter Antiamerikanismus kam mir sehr amerikanisch vor.

Kurz wollte ich etwas erwidern, ließ es dann aber lieber, weil ich das schon tausendmal im Fernsehen gehört hatte, weil „Die Bushs“ und der real existierende Präsident keine Gegensätze darstellen und weil das Handy klingelte. Was früher die sowjetische Nationalhymne war, ist nun mein Handyklingelton.

DETLEF KUHLBRODT