Der Risikoprophet

Mal habe Glatzel total daneben gelegen, sagt ein Kollege, mal genau insSchwarze getroffen

von BARBARA BOLLWAHN DE PAEZ CASANOVA

Der Vorgänger des Psychiaters Johann Glatzel wurde erschossen. Von einem Patienten, über den er ein Gutachten geschrieben hatte. Der Täter war kein Psychopath. Er litt unter einer Persönlichkeitsstörung. Das Opfer war Verfasser des Buches „Abnorme Persönlichkeiten“. Ein Jahr war die Stelle vakant, bis 1971 Johann Glatzel den Posten des Universitätsprofessors für forensische Psychiatrie am Klinikum Mainz übernahm. Glatzel lebt noch, aber er bekommt ab und zu Drohbriefe.

Psychiater sind umstritten, sie beeinflussen mit ihren Gutachten das Schicksal von Menschen. Urteile im juristischen Sinne fällen sie nicht. Aber sie liefern Gerichten eine Entscheidungsgrundlage, wenn sie in deren Auftrag sie Vergewaltiger begutachten, Kleptomanen oder Mütter, die ihre Babys getötet haben. Zunehmend erwarten die Gerichte von den Gutachtern, dass sie das weitere Verhalten eines verurteilten Straftäters vorhersehen. Wird er rückfällig? Stellt er weiter eine Gefahr für die Allgemeinheit dar? Plötzlich obliegt den Gutachtern der Schutz der Öffentlichkeit. Wenn dann einer zuschlägt, den der Psychiater für ungefährlich erklärt hat, hat der Gutachter ein Problem.

Bei Johann Glatzel war das so. „Er verhalf diesem Vergewaltiger in die Freiheit“, schrieb die Bild-Zeitung unter einem Foto von ihm. Die Überschrift lautete: „Milder Herr Gutachter, plagt Sie kein schlechtes Gewissen?“

Es war das Gutachten über den heute 49-jährigen Wilfried S. Dieser hatte als Elfjähriger Damenunterwäsche gestohlen und ein Jahr später zum ersten Mal eine Frau angegriffen. Von da an lebte er in der Psychiatrie, bedrohte und überfiel jedoch weitere drei Frauen, entweder hatte er Urlaub von der Klinik, oder er war geflohen. Ende der 90er-Jahre engagierte sich eine Anwältin für den Jahrzehnte Eingesperrten und überzeugte den Stern, einen neuen, externen Gutachter zu beauftragen. Johann Glatzel. Er fuhr im November 2000 in die Psychiatrie nach Schleswig-Holstein, um Wilfried S. zu untersuchen. In seinem Gutachten schrieb er, der „Defektzustand“ sei inzwischen weitgehend ausgeglichen. „Daher sind von Herrn S. ‚infolge seines Zustandes‘ erhebliche rechtswidrige Taten nicht zu erwarten.“

Im April 2002 wird Wilfried S. entlassen, drei Monate später vergewaltigt er eine junge Frau.

Johann Glatzel sitzt am Tisch in seinem Büro an der Universität Mainz. Es ist früher Abend. Der 64-jährige bietet Kaffee und Zigaretten an. Schlechtes Gewissen sei „nicht die richtige Vokabel“, sagt er. Erschrocken sei er gewesen, als er im Urlaub in Litauen von der Vergewaltigung erfuhr. Und neugierig. „Man möchte wissen, was hat den Mann bewogen, das zu tun.“ Mitverantwortlich an der Vergewaltigung fühlt er sich aber nicht. Deshalb will er auch nicht von einer falschen Prognose sprechen. „Ein Gutachten kann falsch sein, wenn es im Ergebnis jemandem schadet.“

Im Fall S. hat es der 21-Jährigen geschadet, die vergewaltigt wurde. Glatzel atmet tief ein. „Buh.“ Er fasst sich mit der Hand an den Hinterkopf, denkt nach und sagt schließlich einen Satz, der ehrlich, aber erschreckend klingt für einen erfahrenen Gutachter: „Ich habe vielleicht auch nicht so weit gedacht, dass er nach 30 Jahren von heute auf morgen vor die Tür gesetzt wird.“

Glatzel räumt ein, dass es nicht das erste Mal war, dass er später „erhebliche Zweifel“ an der Richtigkeit eines von ihm erstellten Gutachtens hatte. „Sicher“, es gebe Gegengutachten, die zu einem anderen Schluss kamen als er und die er für gut halte. „Man erkennt schon mal, dass jemand einen Aspekt stärker berücksichtigt als man selber.“ Als Kränkung empfinde er das nicht. „In diesem Handwerk gibt es keine objektivierbaren Befunde. Es hat auch sehr viel zu tun mit der individuellen Sicht der Dinge.“

Eigentlich wollte Johann Glatzel Germanistik studieren. Mit seiner runden Brille und seiner manchmal nuscheligen Aussprache könnte er einen Literaturprofessor abgeben. Auch wie er in seinem Büro sitzt und sich locker gibt: die Ärmel aufgekrempelt und den linken Arm hoch an die Wand gelegt. Oder wie er aufsteht, durchs Zimmer geht, den rechten Fuß auf den Schreibtisch hebt und den rechten Ellenbogen aufs Knie legt. Aber er hatte keine Lust, „mit widerborstigen Pennälern über Dinge zu reden, die man schön findet“, und interessante Lektorenposten seien rar. Zudem beschäftigten sich sowohl die Psychiatrie als auch die Germanistik mit Grenzbereichen.

Lange bevor sich Glatzel die Studienfrage stellte, hatte er schon mit „Verrückten“ zu tun. Sein Großvater, ein Psychiater, hatte Mitte des 19. Jahrhunderts eine psychiatrische Anstalt in Göppingen gegründet, die sein Vater, ein Internist, weiterführte und die es heute noch als Privatklinik gibt. Dort ist er als Kind oft im Klinikpark mit Schizophrenen und deren Sinnestäuschungen spazieren gegangen. Gespräche mit psychisch Kranken, sagt er, faszinierten ihn mehr als deren Rückführung in die Konformität.

Etwa 10 Prozent seiner Klienten sind Sexualstraftäter. Der Psychiater sieht sie allerdings nicht als Straftäter, sondern als „Menschen mit Biografien, die irgendwie gescheitert sind“. Reizvoll und spannend sei die Beschäftigung mit den Varianten menschlichen Verhaltens. Bei Sexualdelikten ebenso wie bei Beziehungsdelikten. Letztere interessieren den in dritter Ehe verheirateten Glatzel besonders. „Was hat gefehlt, um selber in der Rolle zu sein wie der, der begutachtet wird?“, fragt er sich.

Glatzel, der sich vom Stern vereinnahmen ließ, kritisert, dass sich Gutachter von Gerichten vereinnahmen lassen. „Man ist ein Gehilfe der Strafvollstreckungskammer“, sagt er. Gutachter könnten nur dazu beitragen, psychisch kranke Rechtsbrecher zu „identifizieren“. Indem sie „hellhörig“ sind. Für Spuren von Abnormitäten, für Gesten, für „Signale des Abweichenden“. Doch letztlich, räumt er ein, sei man nicht völlig frei davon, die Erwartungen der Gerichte erfüllen zu wollen.

Der Sprecher der Klinik in Schleswig-Holstein wirft Glatzel vor, bei seinem Gutachten für den Stern nicht gründlich vorgegangen zu sein. Der Psychiater habe sein 60-seitiges Gutachten nach nur 20 Minuten Gespräch mit dem Patienten und zwei Stunden Aktenstudium verfasst und nicht mit den Kollegen vor Ort gesprochen. „Wie kann man so eine 30-jährige Lebensgeschichte aufarbeiten?“ Der Kliniksprecher glaubt, dass Glatzel an Reputation eingebüßt hat.

„Herr Gutachter, plagt Sie kein schlechtes Gewissen?“, fragte „Bild“. Glatzel war erschrocken. Und neugierig

Gibt es eine Möglichkeit, Gutachten sicherer zu machen? Ja, meinen die einen. Beispielsweise mit Prognoseverfahren, die auf statistische Instrumente und Bewertungsskalierungen von Null bis Zwei setzen. Diese basieren auf Kriterienkatalogen über bestimmte Typen von Rückfalltätern und deren Gefährlichkeit oder auf dem Abfragen von „Items“: Auseinandersetzung mit der Tat, allgemeine und reale Therapiemöglichkeiten, „sozialer Empfangsraum“ nach der Entlassung. Glatzel hält nichts von diesen Methoden. Er setzt weiterhin auf seine Erfahrungen und auf das Wiedererkennen psychischer Abnormitäten. „Fragebogen sind wirklichkeitsfremd und mir zutiefst zuwider.“

Einige Psychiater machen es Glatzel zum Vorwurf, dass er diese prognostischen Instrumentarien nicht nutzt. Zum Beispiel der Leiter des Gutachteninstituts in Nordrhein-Westfalen, Rainer Gliemann. Er kennt über 50 Gutachten des Mainzer Professors. Bei einigen habe er „total daneben gelegen“, bei anderen „ins Schwarze getroffen“. Zu dem Stern-Gutachten sagt Gliemann: „Die meisten Psychiater lehnen Privatgutachten als degoutant ab. Da steht man in Lohn und Brot bei denen, die furchtbar enttäuscht sind, wenn man sagt, der muss drin bleiben.“ Gliemann weiß von Richtern, die Glatzel nicht mehr als Gutachter bestellen würden.

Glatzel hingegen sagt, keine negativen Reaktionen von Gerichten oder Kliniken festgestellt zu haben. Nur Briefe, in denen ihm „zumindest erschießen“ angedroht wurde. Er hebt den rechten Arm und winkt ab. „Diese üblichen Geschichten.“ Kritik an seiner Vorgehensweise schüttelt er ab. „Was heißt auf der Höhe der Zeit? In einigen Jahren wird jemand nicht auf der Höhe der Zeit sein, der die Psychiatrie nicht als Geisteswissenschaft sieht.“ Dann wechselt der Psychiater zur unverfänglichen Literatur und fragt. „Welche Hölderlin-Interpretation ist auf der Höhe der Zeit?“

Glatzel selbst kritisiert an der Psychiatrie, dass sie auch „Varianten des Normalen“ etikettiere. „Immer mehr Verhaltensmuster, die abweichen, werden von Psychofritzen vereinnahmt.“ Als Beispiel nennt er die Spielsucht. Dabei habe es leidenschaftliche Spieler immer gegeben. Die Prognose Spielsucht ist für ihn „eine Erfindung“, genauso wie die Kaufsucht.

Auch Glatzel hat schon eine Krankheit kreiert. Er erzählt, wie er einmal einem Angeklagten „Arbeitsabständigkeit“ bescheinigte. Eigentlich war das nur eine elegante Umschreibung für faul, aber das Gericht machte eine Krankheit daraus. Als der Professor die Anekdote erzählt, klingt er belustigt. Aber auch ein wenig stolz.