Klamotte mit Scheuklappe

„Anuraaqtug“ bedeutet in der Sprache der Inuit „der Wind bläst“. Was bei der Renaissance des Anoraks irgendwie auf der Strecke blieb, war das schlechte Gewissen über den Pelz an der Kapuze

VON MARTIN REICHERT

Angefangen hatte alles, als er ging: Welcher Hipster könnte den Abschiedsauftritt des Pastorensohns und Popliteraten Benjamin von Stuckrad-Barre vergessen. Für die Sendung „Polylux“ hatte er sich auf das Dach einer Prenzlauer Berger Mietskaserne gesetzt und verkündet: „Ich brauche euch alle nicht.“ Gerüstet für die kommende Einsamkeit jenseits des Scheinwerferlichts und ohne Anke Engelke war er mit einem Satinanorak, umkränzt von einer ausladenden pelzbesetzten Kapuze. Gut sah das aus, der gleißende Himmel über Berlin, ein einsamer Literat vor Schornsteinen – und er war der einzige Hauptstadtbürger, der solch eine Jacke sein Eigen nennen konnte, damals, im Winter von 2001 auf 2002.

Unsereinem kam erst nach dem Kauf das schlechte Gewissen: Was, wenn der Pelz echt ist? Und nirgendwo eine Waschanleitung mit den Materialangaben, nirgendwo ein Beweis unserer Unschuld.

Aus Angst vor Farbbeutelanschlägen nahmen wir die Kapuze einfach ab und trugen stattdessen Mütze. Mittlerweile ist die Kapuze wieder dran, denn so viel Scham ist nicht angebracht in einer Welt, die übersät ist mit pelzbesetzten Kapuzen. Zudem wissen wir nun, dass es sich bei unserem Pelz um „Fake Fur“ handelt, der Besatz ist aus Kunststoff, so wie bei den meisten Wald-und-Wiesen-Anoraks dieser Machart in der Preisklasse zwischen 50 und 150 Euro.

Von Grönland zu H & M

H-&-M-Verkäufer Bernd T. (25) bestätigt, dass bepelzte Anoraks in dieser Wintersaison der absolute Renner waren: „Du musst nur mal MTV anschalten, jeder Rapper und HipHopper läuft mit diesen Anoraks rum.“

Zum anderen ist er sich sicher, dass es sich bei dem Material ausschließlich um Kunststoff handelt. Wer also nix auf Tasche hat, spart sich gleichzeitig das schlechte Gewissen. Schließlich hatte der Trend, in diesem Winter Konsens, mal mit Not, die erfinderisch macht, angefangen. Und das in einem Milieu, das der Schlachtung unschuldiger Pelztiere nicht verdächtig ist: In alternativen und autonomen Kreisen weiß man schon lange, dass es in Army-Shops billige, wattierte Parkas gibt, die für 50 Euro verdammt warm halten, etwa so wie jenes Exponat, das Detlef Buck in „Herr Lehmann“ trug.

Astrid Hof (30) ist Studentin in Friedrichshain, ihren pelzbesetzten Anorak hat sie vor drei Jahren für billig Geld erworben: „Ich würde das Teil nie tragen, wenn es sich dabei um echtes Tierfell handeln würde“, sagt sie entsetzt und meint: „Die Markentypen haben das einfach teuer nachgemacht.“

Bei den Markenherstellern von Gucci bis Chanel ist der Pelz in der Tat echt, und die Zeiten, in denen man sich vor öffentlichen Attacken engagierter Tierschützer fürchten musste, sind auch vorbei. Im Gegenteil gibt es auf den Laufstegen ein Comeback des Fells, und das völlig ungeniert. Naomi Campbell, die sich 1994 für die „Fur No“-Kampagne ausgezogen hatte („Lieber nackt als im Pelz“) zeigte sich nur vier Jahre später in einem Zobel: Überzeugungen sind in dieser Branche eben auch der Mode unterworfen.

Diese wiederum spiegelt bekanntlich den Zeitgeist, und der hat sich spätestens seit dem Jahr 2001 bei „unter Null“ eingependelt, gefühlte Temperatur nach Bret Easton Ellis. Das Maskottchen dieser Dekade ist der Pinguin, der mit Zähigkeit und Würde der widrigen und vor allem kalten Umwelt trotzt.

Pelz als Kulturtechnik

Da liegt es nahe, dass Mensch sich den Verhältnissen anpasst und auf die Techniken der Inuit zurückgreift. Die pelzumkränzte Kapuze ist ursprünglich ein „Eskimo“-Accessoire und dazu gedacht, den kalten Wind vom Gesicht fernzuhalten. Das Wort Anorak ist sogar auf die Sprache der Inuit zurückzuführen: „Anuraaqtug“ bedeutet übersetzt „der Wind bläst“.

Die US-Army hatte schon früh den Nutzen dieses Kleidungsstücks entdeckt, das ursprünglich aus Robbenfell gefertigt wurde: Der Pelz bricht den Wind und sorgt so dafür, das der Kopf unter der Kapuze schön warm und damit wehrhaft bleibt. Allerdings wird dafür das Gesichtsfeld eingeschränkt.

Das hat den Trendscouts der Modekonzerne so gut gefallen, dass es in der Fußgängerzone mittlerweile aussieht wie bei einer Arktisexpedition. Die aufgesetzte Kapuze verschafft dem Träger einen Tunnelblick, der zum einen das Überqueren der Straße zu einer urbanen Risiko-Sportdisziplin macht und zum anderen für einen angenehmen sozialen Scheuklappeneffekt sorgt. Man sieht links und rechts kein Elend und hat immer sein Ziel vor Augen.