Neue Heimatkultur

Neue Ideen für Computerspiele entstehen heute besonders in regionalen Marktnischen. Die Anführer der Branche setzen lieber auf sichere Gewinne mit Lizenzen von erfolgreichen Kinofilmen

von KONRAD LISCHKA

Wenn am 22. Mai der Film „Matrix Reloaded“ startet, werden Computerspieler einige Stellen besser als der Rest. Denn sie kennen wichtige Fragmente der Vorgeschichte aus dem Computerspiel „Enter the Matrix“, das eine Woche vorher in Deutschland erscheint. Selten zuvor waren Vermarktungssynergien so perfektioniert: Das Spiel besteht zwar auch aus Elementen bekannter Actiontitel, vor allem aber aus von den Wachowski-Brüdern gedrehten Szenen – und natürlich der entsprechenden Lizenz.

Lizenzen sind ein schönes Geschäft für Filmproduzenten und Spieleverlage. Die Kunden sind jedoch geteilter Meinung: Viele mögen die Atmosphäre der lizensierten Erzählstoffe. Einige, meist ältere Spieler monieren jedoch, das Spielprinzip sei häufig zu alt. Die wenigen wirklich neuen Spielideen der vergangenen Jahre wie „Pikmin“, „Halo“ oder „Metroid Prime“ kamen tatsächlich ohne Lizenzen aus. Das Rezept für sicheren Gewinn könnte der Spielindustrie mittelfristig schaden. Denn woher sollen Innovation kommen, wenn Spiele lizensierte Desiderate des Massengeschmacks recyceln?

Aber bei den großen Verlagen stehen die Chancen für Experimente schlecht. Der Designer Ed Bartlett bei Entwickler „Bitmap Brothers“ gebraucht die Namen mancher Großverlage synonym mit Innovationshemmung: „Die Spielindustrie erreicht nun das Stadium eines Massenmarktes, auf dem die Kunden vor allem die neuesten Sportspiele einer bekannten Reihe, Lizenzen oder Blockbuster wollen.“

60 bis 70 Prozent der erscheinenden Spiele sind Fortsetzungen, Teile einer Produktreihe oder Lizenztitel – das sagen die Zahlen der britischen Risiko-Management-Firma „Wise Monkey“. Die Entwicklungskosten für Spiele sind noch schneller gestiegen als die Umsätze und Gewinne – in den vergangenen zehn Jahren auf das Zehnfache, im Durchschnitt 3 bis 6 Millionen Euro je Titel. Die Folgen beschreibt Bob Hopkins von „Wise Monkey“ so: „Die Verlage sind nicht willens, Prototypen neuartiger Spiele zu finanzieren. Man kann kommerzielle Risiken durch Lizenzen, Franchise-Bildung und populäre Themen senken.“

Erfolg in der Provinz

Die Großen der Branche beherrschen zwar 90 Prozent des europäischen Angebots. Nationale Märke eröffnen dennoch gewisse Chancen. Der japanischen Begeisterung für Musikspiele ist der Playstation-Titel „Vib Ribbon“ zu verdanken. Das Spiel berechnet aus beliebiger Musik zweidimensionale, im Takt pulsierende Landschaften, deren Hindernisse der Spieler überwinden muss. Die Entwicklung und den Vertrieb konnte der Hersteller „Nana On-Sha“ wegen des relativ sicheren Absatzes auf dem japanischen Markt finanzieren. Ähnliches gilt für den Titel „Mojib Ribbon“, der, basierend auf beliebigen Texten, Landschaften berechnen wird. Der kulturelle Status der Kalligraphie sichert den Verkauf.

Ein anderes Beispiel für die Bedeutung des kulturellen Hintergrunds ist das Strategiespiel „Knights of the Cross“ des polnischen Entwicklers „IM Group“. Das Spiel basiert auf dem Roman „Die Kreuzritter“ des polnischen Nationaldichters Henryk Sienkiewicz und thematisiert die Zeit vor und nach der Schlacht bei Grünwald 1410. Eine für die polnische Geschichte bedeutende Zeit, was den kommerziellen Erfolg des Titels „Knights of the Cross“ in Polen erklärt. Aber der Export nach Westeuropa brachte nur wenig ein. So erfrischend der Hintergrund abseits der bekannten Zivilisationsfeldzüge war – das Spielprinzip bot zu wenig Neues.

Einen ähnlich zwiespältigen Eindruck hinterlässt das im vergangenen Jahr erschienene Spiel „Dragon Throne: Battle of the Red Cliffs“ des chinesischen Studios „Object Software“ aus Peking. Der Hintergrund war neu: das dritte Jahrhundert nach Christus, als auf dem Gebiet der heutigen Volksrepublik drei Königreiche um die Macht rangen. Der Mechanismus des Spiels jedoch nicht.

Solche halbherzigen Zugeständnisse an Westeuropa und Nordameika haben wohl eher mit Absatzchancen als mit Ideenlosigkeit zu tun. Denn im inländischen Markt Chinas erzielt selbst das größte (und linientreueste) Studio „Kingsoft“ nur drei Million Dollar Umsatz. Deshalb versuchen Studios wie Object Software Titel zu exportieren, leidlich erfolgreich wie bei „Fate of the Dragon“, das 2001 Eidos veröffentlichte. Mit ähnlichen Problemen haben auch die meisten Entwickler aus Osteuropa und Lateinamerika auf ihren lokalen Märkten zu kämpfen. Deshalb produzieren viele osteuropäische Studios – bisweilen anspruchsvolle und durchaus untypische – Genretitel für den westlichen Markt. Zum Beispiel entwickelt die ukrainische Firma GSC „Stalker Oblivion Lost“, einen klassischen Egoshooter, der aber auf dem verseuchten Gebiet um Tschernobyl spielt und starke Anleihen bei Tarkovskys Film „Stalker“ von 1979 nimmt.

In Osteuropa sind wegen der geringen Kosten viele Arbeiten mit eindeutiger Ausrichtung auf den westeuropäischen und nordamerikanischen Markt entstanden: der Taktikshooter „Vietcong“ der tschechischen Firma Illusion Softworks, „Battle Isle 4“ als Auftragsarbeit beim slowakischen Studio Cauldron oder „Imperium Glactica II“ der ungarischen Entwickler Digital Reality. Ein unbedarfter Spieler würde bei keinem dieser Titel vermuten, dass er anderswo als in Westeuropa oder Nordamerika geschrieben wurde.

Global lokal

Ein Weltklassiker wie einst „Tetris“ ist bislang nicht in Sicht. Die nationalen Märkte müssen erst wachsen, bis so etwas auf dem heutigen Niveau der Spielentwicklung möglich wird. Dass es funktioniert, zeigen japanische Entwickler. Sie haben die restliche Welt für Musikspiele wie „Parappa the Rapper“ interessiert. Deutschland exportiert Aufbau-Strategiespiele wie „Anno 1503“ und die seltsame Begeisterung für Handelsschiffe, Gerbereien, Felle und dergleichen in die ganze Welt. Der internationale Spielverlag „Electronic Arts“ hat die Faszination für den Sport am Bildschirm außerhalb der Vereinigten Staaten geweckt. Dort sichern die jährlichen Neuauflagen der digitalen Versionen von Baseball, Basketball, Eishockey mit den Lizenzen der entsprechenden Profiligen Millioneneinnahmen – in Deutschland der „Fußball Manager 2003“. Sind die einheimischen Spielmärkte in Osteuropa, China oder Lateinamerika einmal groß genug, um das Überleben der dortigen Studios zu sichern, könnten sie mittelfristig den internationalen Markt mit ähnlichen Besonderheiten bereichern. Und bis dahin werden auch einige Lizenzgenres lokaler werden. Der Verlag Codemasters hat für den Herbst eine Fußballsimulation in 15 lokalen Versionen mit Vereinslizenzen von Bayern München bis Real Madrid angekündigt. Die Glokalisierung hat begonnen.

konradlischka@gmx.de