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Die Gänsehauterzeugerin

Wie unter einem Vergrößerungsglas: Die 26-jährige Schauspielerin Anne Ratte-Polle legt sehr subtil Distanz zwischen sich und ihre Rollen. Im Schauspiel Hannover, in Romuald Karmakars Film „Die Nacht singt ihre Lieder“ oder einem Fernsehkrimi aus der Polizeiruf-Reihe und selbst im Alltag. Ein Porträt

VON EVA BEHRENDT

Man sieht sie im Profil vor weißem Hintergrund. Zart, kühl, elfenhaft. Eine perfekt geschwungene Linie führt von der hoch gewölbten Stirn über die Andeutung eines Lächelns bis zum energischen Kinn. Der Teint schimmert durchsichtig, auf ihrem Haar liegen Schneekristalle: Das Plakat zu Romuald Karmakars umstrittener Jon-Fosse-Verfilmung „Die Nacht singt ihre Lieder“ zeigt Anne Ratte-Polle als überirdische Erscheinung.

In der gutbürgerlichen Berlin-Mitte-Wohnung, in der Karmakar Fosses düsteres Drama wie eine Reliquie ausstellt, ist Anne Ratte-Polle mehr als eine eisige Priesterin. Als attraktive „junge Frau“ steht sie durchaus mit beiden Beinen auf dem abgezogenen Dielenboden und unter Hochdruck. Mit jedem Satz, den sie dem Vater ihres Kindes (Frank Giering) um die Ohren haut, öffnet sie das Ventil einen Spalt. Während er wie gelähmt dasitzt und mit Dackelblick jeden Vorwurf bekräftigt, ist sie die treibende Kraft in der Beziehungsfolter, restlos genervt und vor verhaltener Aggression so schneidend zynisch geworden, dass man in manchen Szenen erschrocken nach ihrer Schönheit sucht. „She really gave me the creeps“, sagte ein Kritiker auf der Berlinale. Schwer zu sagen, ob er das angewidert oder anerkennend meint: „Bei der kriegte ich echt Gänsehaut.“

Tatsächlich irritiert Anne Ratte-Polles Spiel- und Sprechweise im Kino. Dabei kann man ihr weder Overacting vorwerfen, noch dass sie „theatralisch“ spielt. Eher stellt sie sich selbst wie unters Vergrößerungsglas, indem sie die Betonung einen Hauch verschärft, die Mimik eine Spur zuspitzt und subtil zeigt, dass Darstellerin und Rollenfigur nicht identisch sind. Immer ist da dieser Funke Distanz im Spiel, den man im Theater genießt, der dort als Ausweis des autonomen, intelligenten Schauspielers gilt. Eine Konvention natürlich, genau wie der illusionistische Realismus der Kinodarsteller. In „Die Nacht singt ihre Lieder“ prallen nicht nur Mann und Frau, sondern auch diese beiden Konventionen aufeinander.

Die 26-Jährige wollte schon früh Schauspielerin werden, „aber ich wollte bestätigt, gefragt, ermutigt werden“. Nach dem Abitur im ländlichen Cloppenburg trat sie zunächst in die Fußstapfen ihrer Eltern und schrieb sich in Münster für Grundschulpädagogik ein. Im Kurs für Sprecherziehung passierte es endlich: Die unterrichtende Schauspielerin bestätigte, fragte, ermutigte. Anne Ratte-Polle schmiss die Pädagogik, ging nach Rostock auf die Schauspielschule und lernte von der Pike auf. Seither ist sie eigentlich unentwegt gefragt: Vom zweiten Studienjahr an spielte sie in TV-Produktionen mit, kaum hatte sie ihr Diplom, wurde sie von Christoph Schroth, der DDR-Theaterlegende, ans Theater in Cottbus engagiert. Zur Spielzeit 2002/03 holte sie Wilfried Schulz ans Schauspiel Hannover, wo die Creme des jüngeren deutschen Regietheaters inszeniert. Hier kann man Anne Ratte-Polle etwa bei Igor Bauersima in einer technisch vertrackten Hosenrolle (dem St. Just in „Dantons Tod“) bewundern oder bei Christina Paulhofer als Wüstenbraut Freya in Joanna Laurens Familiendrama „Fünf Goldringe“ langsam, aber sicher verzweifeln sehen.

„Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich mich für diesen Beruf entschieden habe, war ich sehr faul, habe nur das Nötigste getan. Seither arbeite ich richtig hart, und von Jahr zu Jahr wird es mehr. Manchmal staune ich selbst darüber“, sagt Anne Ratte-Polle. Es ist kurz vor Mitternacht in Hannover, aber sie ist so konzentriert und gut gelaunt, als hätte sie gerade nicht drei Stunden in Andreas Kriegenburgs Houellebecq-Adaption „Plattform“ auf der Bühne gestanden, sondern eine äußerst erquickliche Yoga-Übung absolviert. Ihre Entscheidung, sich nicht zwischen Theater und Film zu entscheiden, braucht starke Nerven und funktioniert nur, wenn man einen sehr verständnisvollen Intendanten, freundliche Kollegen und äußerste Disziplin hat.

Dabei muss es nicht immer Autorenkino sein. Dass Anne Ratte-Polle auch unscheinbare Krimi-Nebenrollen mit Glamour erfüllen kann, sah man zum Beispiel im Polizeiruf „Verloren“ (Regie: Andreas Kleinert), wo sie als einsame Rezeptionistin mit Kommissar Henry Hübchen vor der Glotze einnickte. Ähnlich gelassen und beiläufig (im Jargon gesprochen: „unterspannt“) bewegt sie sich auch in Houellebecqs euphorischem Bekenntnis zum Sextourismus. Zusammen mit fünf Michels und einer zweiten Valerie gestattet Anne Ratte-Polle dem Publikum großzügig, ihr in den Zimmern von Harald Thors verglastem Apartment-Aufriss beim Wohnen zuzugucken. Egal, ob sie halb nackt mit einem der Michels auf dem Bett herumliegt, fernsieht, raucht oder mit dunkler Stimme ein Chanson ins Mikrofon haucht: Nie hat man das Gefühl, dass sie sich aktiv in den Mittelpunkt drängt, immer ist klar, dass keiner der Michels ihr auch nur entfernt das Wasser reichen kann.

Dabei spielt sie, wie sie jetzt mit ironischem Lächeln sagt, natürlich sehr wohl mit den voyeuristischen Blicken. Überhaupt, das Spielen! Anne Ratte-Polle wirkt eigentlich ziemlich normal, aber wenn sie von ihren Projekten erzählt, gleitet sie leicht ins Anekdotische, imitiert Stimmen. Mit leuchtenden Augen flüstert sie als Karmakar, der für den Fosse-Film doch noch die Gelder zusammengekratzt hat: „Oh, es klappt, es klappt!“ Das Spielen scheint zu ihrer Person zu gehören, als Ausdruck eines immer auch distanzierten Blicks auf die Welt und auf sich selbst.

Nichtsdestotrotz kann Anne Ratte-Polle auf der Bühne auch schwere emotionale Kaliber anpacken. In „Mamma Medea“, der zeitgenössischen Mythenbearbeitung des Belgiers Tom Lanoye (Regie: Sebastian Nübling), vollzieht sie eine schier unglaubliche Verwandlung: Aus der strahlenden, radikal verliebten Luxuskönigstochter, die für den Barbaren Jason den eigenen Clan verrät, wird in Griechenland eine verbitterte Mutter mit grau verquollenem Teint und tiefen Augenringen. Den Mund zum Strich verbissen, den Blick vor Hass und Wut geschlitzt, weigert sie sich, zu gehen oder zu verzeihen, und wird, mit Jason im Wettkampf der Hassliebe hoffnungslos verkeilt, zur Mörderin. Da ist sie wieder, die Gänsehaut.

Anne Ratte-Polle ist am 26. und 27. 2. in Hannover in „Plattform“ zu sehen, am 29. 2. in „Fünf Goldringe“.

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