Kabeljau-Fischer im Röckchen

In Dünkirchen, dem französischen Küstenstädtchen an der Grenze zu Belgien, feiern die Nachfahren der Seemänner an Karneval ein traditionelles Abschiedsfest. Wildfremde Gäste werden drei Tage und Nächte lang am heimischen Esstisch bewirtet. Und der Bürgermeister wirft mit Fischen

VON ROBERT B. FISHMAN

Wie einst die Fischer in der letzten Nacht vor ihrer gefährlichen Reise ins Nordmeer, ziehen die Dünkirchener jedes Jahr an Karneval drei Tage und Nächte lang singend und tanzend durch die Stadt. Tausende öffnen Ihre Türen für die umherziehenden Narren, und zum Schluss fallen sie alle vor der Statue des Freibeuters Jean Bart auf die Knie.

Dass ihr Fest trotz hektoliterweise Alkohol friedlich bleibt, verdanken die Dünkirchener Leuten wie Pierrot. Ein Hüne, groß und breit wie ein alter flämischer Bauernschrank. Die schwarzen Haare hat sich der 44-Jährige hinter dem großen, runden Kopf zu einem Pferdeschwänzchen zusammengebunden. „Den Karneval“, sagt er, „haben wir Dünkirchener in den Genen. Das ist Geselligkeit, Freunde treffen und einmal im Jahr alle Sorgen vergessen.“ Mit seiner Kraft, seinem Witz und seinem Engagement für den höchsten Feiertag hat sich der Fernfahrer in die erste Reihe gedient. Die erste Reihe der „Visscherbande“, dem Höhepunkt des Dünkirchener Karnevals, ist die Ehrenloge, das höchste, was ein Karnevalist erreichen kann.

In mehr als hundert straßenbreiten Reihen aufgestellt, mit ihren Armen ineinander verhakt, folgen Pierrot und seine Mannen einem Trommler und einem Fanfarenbläser, die mit goldenen Kordeln dekorierte dunkelblaue Uniformen des 19. Jahrhunderts tragen. Wenn der Zeremonienmeister sein Zepter hebt, bleibt der Zug schlagartig stehen. Die Menge springt ausgelassen in die Luft. Die erste Reihe muss, die Füße in den Boden gestemmt, die nachschiebenden Massen stoppen. „Ein verantwortungsvoller Job“, wie Pierrot und viele andere Karnevalisten versichern. Wer unter dem Druck der bis zu 40.000 nachschiebenden Menschen umfällt, muss von seinen Freunden schnell aufgehoben werden, damit er nicht zertreten wird. „Wir halten zusammen und passen aufeinander auf“, verspricht Pierrot, und seine wachen, dunklen Augen leuchten noch ein bisschen mehr.

Sein Job ist schwieriger geworden, seitdem immer mehr Auswärtige zum Karneval kommen, die die Regeln nicht kennen. Größere Unfälle habe es bisher jedoch nicht gegeben.

Die Visscherbande (sprich: Wischerbond), das ist die Fischerbande, die seit Beginn des 18. Jahrhundert in jedem März zum Abschied durch Dünkirchen zog. Damals erlaubte die dänische Regierung Dünkirchenern, vor der Küste Islands zu fischen. Für sechs lange, entbehrungsreiche Monate segelten die Männer der Stadt zum Kabeljaufang gen Nordwesten. Auf Fotos aus den Zwanziger- und Dreißigerjahren zeigt das Hafenmuseum, wie die jungen Männer frierend in 18-Stunden-Schichten an der Reling ihrer offenen Boote standen, um an langen Angelschnüren die Fische einzeln aus dem eisigen Atlantik zu ziehen.

Anfang des vergangenen Jahrhunderts lebte fast die ganze Stadt vom Fischfang, der Zuliefer- und Verarbeitungswirtschaft. Viele von ihnen kamen von der gefährlichen Reise in den stürmischen Nordatlantik nicht mehr zurück. In manchen Jahren behielt der tosende Ozean bis zu zweihundert Mann. Ihr Boot war im Sturm gesunken oder eine Welle hatte die Männer in den Ozean gespült. Kurz vor der gefährlichen Fahrt zahlten die Reeder die halbe Heuer aus und spendierten ein Abschiedsfest. Weil ihre Frauen und Kinder in der Stadt zurückblieben, verkleideten sich die Seeleute als Frauen, und so ist es bis heute.

Die meisten Karnevalisten ziehen ordinär geschminkt in Strumpfhosen, bunten Röcken und mit ausladenden Dekolletees durch Straßen und Kneipen. Um den Hals tragen sie grellgelbe, rosa oder orangefarbene Federstolas, auf ihren Perücken blumengespickte Hüte. Lachend erzählen junge Männer, dass sie von angetrunkenen Kollegen für Frauen gehalten und angebaggert würden.

Wer es noch kann, spricht und singt zumindest im Karneval noch richtig Flämisch. Die Sprache war bis nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankreich verboten, weil alle nur noch französisch sprechen und denken sollten. Viele junge Leute lernen nun wieder, was ihre Eltern vergessen mussten.

Im flämischen Estaminet, der kleinen, holzvertäfelten Kneipe mit den vielen Emailleschildern an der Wand und den alten Töpfen an der Decke, tanzen junge Männer kurz nach Mitternacht auf den Tischen. Umfallen kann auch nach dem zehnten Bier hier keiner. Es ist zu voll. Man gibt einen aus und stimmt das nächste Karnevalslied an. Schließlich heben zwei kräftige Kerle die Tür aus den Angeln und tragen sie um die Ecke. Die junge Wirtin, selbst schon reichlich angetrunken, dankt für die Rettung der alten Holztür. Als es gegen zwei Uhr ein wenig ruhiger wird, gibt die Chefin eine Runde Potje Vleesch mit Fritten aus: Ein Pommesberg, fast so hoch wie der höchste Hügel Flanderns, mit Fleisch in einer Sülze, die bekannteste Spezialität der Region.

So gestärkt, zieht die Narrenschar weiter zum Faschingsball im Kursaal, in die nächste Kneipe oder auf eine so genannte Kapelle, die viele Karnevalisten in ihren Wohnungen für die umherziehenden Narren einrichten. Dort gibt es Nudel- und Heringssalat, Bier, Wein und teure Spirituosen bis zum Abwinken.

Eingeladen sind Freunde und wer gerade vorbeikommt. Irgendwann verliert man ohnehin den Überblick. Pierrot erinnert sich am Rosenmontag noch an „ungefähr 300 Leute“, mit denen er die Karnevalsnacht in seiner Wohnung durchgefeiert hat.

Um die Fete und vor allem das Besäufnis zu bezahlen, nehmen viele Dünkirchener Kredite auf. 500 Euro und mehr bleiben am langen Wochenende schnell auf der Strecke. Noch teurer sind die Kapellen.

Viele machen sich einen Sport daraus, auf fremde Kapellen zu gelangen, um dort neue Freundschaften zu schließen. „Es ist so wunderbar, einmal im Jahr jemand ganz anderes zu sein und dabei Leute zu treffen, die man das ganze Jahr nie sieht“, schwärmt eine Närrin, die mit ihren Faschingsfreunden sonst „lieber nichts zu tun“ hat. Sie würde sie ohne Maskerade nicht einmal erkennen.

Pierrot erinnert daran, dass zu Karneval auch die sozialen Schranken fallen. Man singt und säuft mit Bankdirektoren, Arbeitslosen, Lehrern, Arbeitern und, wenn sich’s ergibt, auch mit dem Chef oder dem Bürgermeister, der am Aschermittwoch wieder „Monsieur Le Maire“ (Herr Bürgermeister) heißt.

Am Sonntagnachmittag stehen sie dann alle dicht gedrängt zu Tausenden auf dem Rathausplatz und rufen zum Balkon des Bürgermeisters hinauf: „Lasst die Heringe frei“, bis ein Fischhagel über der Menge niedergeht. Rund eine halbe Tonne geräucherte Heringe werfen Bürgermeister und Angestellte auf die Leute herunter, die begierig nach den – neuerdings in Plastikfolie eingeschweißten – Fischen greifen. „Wo fahren wir hin?“, singen die Stimmen aus fast jeder Wohnung und jeder Kneipe. Die fröhliche Menge antwortet noch viel lauter „auf Kabeljau an die ferne Küste Islands“.

Andere Lieder erzählen von der Liebe, anzüglichen Zoten und von den Heldentaten des Freibeuters Jean Bart. Der kaperte im 17. Jahrhundert für König Ludwig XIV. englische und niederländische Handelsschiffe, während die britische Marine vergeblich versuchte, den Hafen von Dünkirchen zu erobern. Jean Bart, der Standhafte, blieb unbesiegt.

Als 1945 die Deutschen aus der fast völlig zerbombten Stadt abziehen, ragt Jean Barts Standbild unbeschädigt aus den Trümmern. Die Besatzer hatten den Korsaren stehen lassen und nicht – wie fast alle anderen französischen Denkmäler – eingeschmolzen. Schließlich streckt Jean Bart seinen Degen gegen England. Nur ein Loch hat ein betrunkener Soldat kurz vor Kriegsende in den hohlen Körper des Helden geschossen. Zum Abschluss des Karnevals, dem „Rigodon“ ziehen die Jecken mit ihren bunten Schirmen in Reihen um die Statue und fallen zur Kantate von Jean Bart vor dem Denkmal auf die Knie. „Nach Dünkirchen“, zitiert Pierrot ein altes Sprichwort über die hässliche Hafenstadt, kommst du weinend, weil du nicht hinwillst, und du gehst weinend, weil du nicht wieder wegwillst“.

Der Dünkirchener Karneval im Internet: www.carnaval-dunkerque.comTermine: Alle Umzüge, die Visscherbande und die großen Bälle finden am Faschings-(Karnevals-)Wochenende (20.–23. Februar 2004) statt, der Kinderfasching am Dienstag, 24.2. Mit Diskussionsforum und einer Börse, wo es die schnell ausverkauften Tickets für die Karnevalsbälle noch geben könnte (leider nur auf Französisch): www.masquelour.com. Info: Office de Tourisme Accueil Centre Ville – Le Beffroi Rue de l’Amiral Ronarc’h, 59140 Dunkerque☎ 03 28 66 79 21Fax: 03 28 63 38 34E-Mail: accueil.dunesdeflandre@ot-dunkerque.fr, tourisme.dunesdeflandre@ot-dunkerque.fr Internet: www.ot-dunkerque.fr, www.ville-dunkerque.fr