Lagerraum goes Olymp

Die anstehende Opernreform setzt Kräfte frei: Die Staatsoper hat jetzt endlich ein Forumfür Nachwuchs-Talente. Da jazzen, summen und sirren die Götter wie hier noch nicht gehört

von GISELA SONNENBURG

Es wurde aber auch Zeit: Berlins etablierte Opernszene hat, dank Staatsopern-Intendant Peter Mussbach, endlich ein Werkstattprogramm. Was an Stadttheatern sowieso und auch an Opernhäusern wie in Hamburg längst gute Sitte ist, sorgt jetzt auch in der Hauptstadt für frischen Wind: Zeit und Raum, Technik und PR stehen dem Nachwuchs zur Verfügung.

Bezüglich der anstehenden Opernreform, die alle drei Berliner Häuser betrifft, gewinnt die Staatsoper Unter den Linden somit eine Vorreiterrolle – und mehr Profil als beispielsweise mit ihren Miniatur-„Festtagen“, bei denen der zahlungskräftige Jetset bedient wird. Mussbach erkannte denn auch „die museale Struktur“ als einen „Fehler“: Der Weg sei das Ziel, so der Intendant.

Die „Satelliten“, wie die neue jugendorientierte Reihe heißt, starteten zaghaft schon letztes Jahr: mit einem über Stadt und Land ziehenden Lkw, der spontan parkte, damit im öffentlichen Raum Opernträume wahr würden. Strawinskys „Mavra“, mehr spröde als mit Gassenhauern bestückt, sollte opernfremdes Publikum animieren.

Die aktuellen News sind zielgruppengerechter: Am 26. April weihen die „Satelliten“ einen Ort mit Kultpotenzial zur Opernstätte, der bisher nur als Lagerraum für Kulissen und Dekorationen diente. Das so genannte Magazin schräg hinter dem Haupthaus hat eine urige, fast rohe Atmosphäre. Mit offener Spielfläche und viergeschossigen Galerien ist es für Experimente wie gemacht. Als die griechische Komponistin und Dirigentin Konstantia Gourzi zum ersten Mal drin war, schrie sie begeistert auf: „Das ist es!“

Gourzi, seit 16 Jahren in Deutschland und Professorin an der Hanns-Eisler-Hochschule sowie in München, wurde am 31. März 1962 geboren – auf den Tag genau 230 Jahre nach Joseph Haydn. Ihre Beziehung zu dem barocken Maestro ist innig: „Schon als ich anfing, mich mit ihm zu beschäftigen, erfasste mich eine Klangeuphorie.“ Das war vor über zehn Jahren – sie durchstöberte Haydns Werk nach Unbekanntem und fand das 1773 als Marionettenspiel uraufgeführte Stück „Philemon und Baucis oder Jupiters Reise auf die Erde“, das nur in Fragmenten überliefert ist. Obwohl die Partitur den 1. und 2. Satz der Sinfonie Nr. 50 enthält, wurde sie kaum gespielt.

Das dürfte sich jetzt ändern. Gourzi entrümpelte die Noten von glättenden Bearbeitungen und schuf für die fehlenden Teile atemberaubende Klangteppiche: melodiös und jazzig. Da wird gesummt und gesirrt, gestöhnt und geseufzt, tiriliert und tremoliert: Gourzi beweist, dass Oper weder strapaziös noch oberflächlich sein muss. Kontrapunkte und Geräusche überraschen, statt langweiliger Cembalo-Akkorde zum Rezitativ darf eine improvisierende Pianistin ran, in deren Flügel eine Blechdose rumort.

Der Plot birgt zudem politische Brisanz: Ein ministerialer Götterrat, zerstritten und unzufrieden, entsendet Jupiter und Merkur, um bei den Untertanen nach dem Rechten zu schauen. Bis auf ein altes Ehepaar, eben Philemon und Gattin Baucis, zeigt sich die Menschheit aber verdorben. Nur die zwei Alten, die wie Asylbewerber in einem Container hausen, seit Sohn und Schwiegertochter umkamen, sind von überwältigender Freundlichkeit.

So viel Tugend wird belohnt. Jupiter, der den Rest der Welt mit der Generalstrafe eines Unwetters belegt, erweckt die Kinder der Titelhelden aus dem Totenreich. Wenn die Schwiegertochter einschwebt, hebt ein Summton an, der bald den Raum zu sprengen scheint – wie eine Initialzündung geht die Tonkunst der dirigierenden Komponistin ab. Götterspeise für die Ohren: Mit Harfe, Saxofon, Posaune und zwei Schlagzeugen bei den Streichern dremmelt hier ein neuer Stil ganz unopernhaft.

Sinnfällig ist auch das Machtgerangel im Olymp. Kriegsgott Mars marschiert im Geleit von Trompeten, als stamme er aus Texas. Da darf Erotikchefin Venus schon mal stottern. Kollege Apoll singt zickige Walzer, Weingott Bacchus nachgerade besoffene Melodien. Einfallsreich auch die Optik: Von Alexander Polzin stammt ein begehbarer Himmel aus azurfarbenem Zement mit aufgemalten Wölkchen. Das Publikum thront weiter oben – und muss ordentlich die Köpfe recken. Bis am Schluss eine Kinderstimme mehr Realität an

mahnt und ruft: „Weg mit allen Schattenbildern!“

Das ist Oper gegen die Scheuklappen. „Wenn ich eine Vision habe, bin ich besessen“, sagt Gourzi. Ihre Ideen gleichen denn auch aus, was Regisseur Immo Karaman an emotionaler Intelligenz vermissen lässt. Hier lockt wirklich mehr als schöner Schein: Mythologie als Fest für die Sinne.

„Philemon und Baucis“, Magazin der Staatsoper Unter den Linden, 26., 27., 29. und 30. April sowie am 2. und 3. Mai, jeweils 20.30 Uhr. Karten für 15 und 20 Euro (ermäßigt 10 Euro), zu reservieren unter Tel. 20 35 45 55 oder bei contact@staatsoper-berlin.de