: Wagenburg des Nationalgefühls
Die Deutschen sorgen sich um den Zustand ihrer Sprache. Sie sollten lieber darüber nachdenken, warum diese so wenig attraktiv ist. Ein Beitrag zum Tag der Muttersprache
Wer aus angelsächsischen Ländern nach Deutschland kommt, um vor Ort die deutsche Sprache zu lernen, hat es schwer. Hat der Einheimische den Akzent herausgehört, versucht er sein Bestes, um mit dem Fremden auf Englisch zu kommunizieren. Ähnlich verhalten sich Wissenschaftler und Künstler aus Deutschland im Ausland. Die eigene Sprache gilt auf dem internationalen Parkett fast nichts, wer nicht irgendeine Art von Englisch spricht, bleibt stumm.
Immer seltener kommen in Konferenzen Übersetzer vor, auch wenn eine Fremdsprache die eigene kaum ersetzen kann, wenn es um differenzierten Ausdruck und Zwischentöne geht. Der Stolz auf die eigene Sprache, wie er in Frankreich selbstverständlich ist, kommt in Deutschland, wenn überhaupt, dann nur als eine Obsession von Sonderlingen vor.
Lächerlich, beinahe deutschtümelnd wirkt, wer dem deutschsprachigen Wortschatz ein Reinheitsgebot auferlegen möchte. Ist ihr Bier den Deutschen mehr wert als ihre Sprache? Und was bedeutet vor diesem Hintergrund in Deutschland ein „Tag der Muttersprache“, wie ihn die Unesco vor einigen Jahren ausgerufen hat?
Nein, die deutsche Sprache gehört sicher nicht zu den etwa dreitausend weltweit vom Aussterben bedrohten Sprachen. Dennoch treibt viele Deutsche die Sorge um, Ausländer, die sich in ihrem Land niederlassen, würden ihre Sprache nicht lernen. Ein Indiz dafür, dass sie sich nicht integrieren wollen. Deutsche Identität wurzelt anscheinend nicht in einem positiven Verhältnis zur eigenen Sprache, sondern in der Negation der Sprache des Anderen. So als könne, wer beispielsweise Türkisch seine Muttersprache nennt, nicht des Deutschen mächtig sein, als sei in der Zweisprachigkeit der Migranten die deutsche Sprache von vornherein zur Unterlegenheit verurteilt.
Woher kommt dieses ungute Gefühl der Mehrheitsgesellschaft gegenüber ihren Minderheiten? Gebrochenes Selbstbewusstsein führt zum Misstrauen und zu einem befangenen Umgang mit der Sprache der Fremden. Längst ist die Muttersprache der Deutschen auch Türkisch, Russisch oder Arabisch. Allein in den Amtsstuben, in den Schulbehörden und bei den Kultur- und Bildungspolitikern ist diese Tatsache noch nicht angekommen.
In Deutschland geht man mit Sprachen grundsätzlich anders um als in der Europäischen Union. Die deutsche Sprache muss herhalten als die letzte Wagenburg des beschädigten Nationalgefühls. Hierzulande setzt man nicht auf Sprachenvielfalt, sondern eindeutig auf das Verschwinden der als fremd empfundenen Sprachen. Der Türkischunterricht soll abgebaut werden, noch bevor das Erlernen der deutschen Sprache gefördert wird. Dabei sollte, wer auf bessere Deutschkenntnisse der Einwanderer pocht, die jeweiligen Muttersprachen stärken. Denn nur eine richtig und ausdrucksstark erlernte Muttersprache legt das Fundament zum erfolgreichen Erlernen jeder Fremdsprache.
So ist es kein Widerspruch, dass unter den Deutschlandtürken diejenigen perfekt Deutsch sprechen, die nicht selten auch ein gutes Türkisch beherrschen. Denn das imaginäre Schlachtfeld zwischen der Mutter- und der Fremdsprache ist in Wirklichkeit nur eine Ausdrucksebene des Bildungsnotstands. Muttersprache ist eben nicht nur eine Angelegenheit der Mütter, sondern auch eine des Bildungssystems.
Das Drehbuch des auf der Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichneten Films „Gegen die Wand“ von Fatih Akin ist zweisprachig. So wie die meisten Schauspieler und Schauspielerinnen des Streifens mehr oder weniger zweisprachig sind. Darin spiegelt sich die Wirklichkeit wider. Wenn der deutschtürkische Hauptdarsteller in der Türkei mit seinem Türkisch nicht mehr weiterkommt, spricht er auf Englisch weiter. Der künstliche Gegensatz zwischen dem Deutschen und dem Türkischen wird durch die Weltsprache Englisch aufgelöst. Die Frage nach der Muttersprache bleibt davon unberührt.
Wer sich heutzutage in der Welt zurechtfinden will, muss mehr können als die eigene Muttersprache. Ohne die Muttersprache aber bleibt er heimatlos. Die Zeiten, in denen Dichter im Worte wohnten, sind endgültig vorbei. Längst hat das Gefühl der Unbehaustheit auch die Sprache erreicht. Diesen Zustand zu beklagen führt nicht weit. Die Muttersprache der heute Aufwachsenden heißt MTV oder Viva und wird unabhängig von Staatsgrenzen übertragen.
Deutsches Liedgut ist darin wohl nur noch schwer zu integrieren. Damit wird Deutsch zu einer in ihrer emotionalen Kapazität beschnittenen Sprache. Es ist kein Zufall, dass in Akins Film neben rockiger Musik traditionelle Musik aus der Türkei eine wichtige Rolle einnimmt. Denn anders als im deutschen Kulturbewusstsein spielen traditionelle Kunstformen wie Volksmusik im Türkischen nach wie vor eine herausragende Rolle.
Sprache ist nicht nur eine Verkabelung von Bedeutungen. Sie sorgt auch für Gefühlstransfer. Dort wo sie dieser Transferleistung nicht mehr nachkommt, liegt eine Sprachstörung vor. Integrationspolitiker, die sich um den Zustand der deutschen Sprache Sorgen machen und die Furcht vor Fremdsprachen verbreiten, wären gut beraten, über die Kapazität und die Attraktivität der eigenen Sprache nachzudenken.
Nur in Ausnahmefällen gelingt es heute, den Reiz eines Schiller-Gedichts an Jugendliche zu vermitteln. Das liegt, wenn überhaupt, dann nur zu einem geringen Teil an Schiller. Es fehlt weitgehend ein kreativer, gegenwartsbezogener, lebendiger Umgang mit der Tradition. Anders verhält es sich im Türkischen.
Der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannte Dichter wie Yunus Emre oder Pir Sultan Abdal, der eine aus dem vierzehnten, der andere aus dem sechzehnten Jahrhundert, erreichen auch einen in Deutschland aufwachsenden Türken. Die türkische Popkultur hat in den letzten Jahren einen enormen Aufschwung erlebt, gerade durch ihre Verwurzelung in der Tradition. Die emotionale Vermittlung gelingt im Großen und Ganzen.
Auch wenn sie kaum noch an Schulen unterrichtet wird, lebt die türkische Sprache weiter. Sie wird ähnlich weitergegeben wie Musik. Sie dient nicht nur als Bedeutungsträger, sondern als Zündschnur für Gefühle und Bilder. Ein im besten Beamtendeutsch verfasster Aufruf zum Erlernen des Deutschen hat dagegen wohl kaum Chancen.
Die in Deutschland aufwachsenden Migrantenkinder sind gut beraten, Deutsch zu lernen, schon des beruflichen und schulischen Erfolges wegen. Sie dürfen nicht zum zusätzlichen Belastungsfaktor in einem krisenanfälligen Bildungssystem werden. Die deutschen Identitätsprobleme können sie dadurch allerdings nicht lösen. Solange die Beziehung der Deutschen zur eigenen Sprache komplexbeladen ist, bleibt die Anziehungskraft der Sprache gehemmt. Sie dient bestenfalls als Kommunikationsvehikel, nicht aber als emotionale Tragfläche, die Menschen aneinander bindet. ZAFER ȘENOCAK
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