„Ich begreife mich, vielleicht altersbedingt, immer noch als Linker“

INTERVIEW JENS KÖNIG
und PATRIK SCHWARZ

taz: Herr Fischer, haben Sie jetzt eigentlich zwei Chefs statt nur einen: Gerhard Schröder und Franz Müntefering?

Joschka Fischer: Bundeskanzler ist und bleibt Gerhard Schröder. Im Kabinett ist er der Chef. Da gibt’s nur einen. In der Koalition jedoch gibt es keine Chefs.

Lesen Sie keine Zeitung? Franz Müntefering ist zur zentralen Figur der rot-grünen Koalition aufgestiegen.

In unserer Koalition gibt es einen größeren und einen kleineren Partner – aber keine zentrale Gestalt. Teamarbeit ist gefragt.

Aber Sie wollen doch nicht im Ernst bestreiten, dass die Männerfreundschaft zwischen Gerhard Schröder und Joschka Fischer nicht mehr das Machtzentrum der Koalition ist? Das bildet jetzt das Duo Schröder/Müntefering.

Männerfreundschaft! Wenn ich das schon höre. Das sind doch alles gedankliche Freizeitübungen von Journalisten.

Es hat natürlich gar nichts zu bedeuten, dass der Vizekanzler über den Machtverzicht des Kanzlers erst zwei Stunden vor der Pressekonferenz am Telefon unterrichtet worden ist.

Nein. Gerhard Schröders Rückzug vom Parteivorsitz war ohne jeden Zweifel eine sehr schwierige Entscheidung – aber eine Entscheidung der SPD. Wenn wir so etwas Ähnliches in der grünen Partei zu entscheiden hätten, würden wir es auch nicht lang und breit vorher mit dem Koalitionspartner diskutieren.

1999, nach dem Abgang von Lafontaine, haben Sie dem Kanzler geraten, auch noch den SPD-Vorsitz zu übernehmen. Warum soll heute das Gegenteil richtig sein?

Weil die Situation damals eine ganz andere war. Wir sind jetzt in der zweiten Legislaturperiode. Jedes Jahr in der Regierung können Sie getrost mal sieben nehmen. Die Last, die wir zu schultern haben, ist immens groß. Das schafft offensichtlich einer allein nicht mehr.

Die Macht freiwillig abgeben – Herr Fischer, Sie wollen uns doch nicht weismachen, dass ein Machttier wie Sie das gut und richtig findet?

Manchmal kann das richtig sein. Gerhard Schröder und Franz Müntefering haben eine rationale Entscheidung getroffen. Die Umsetzung der Agenda 2010 ist für eine linke Volkspartei wie die SPD nun mal besonders schwierig.

Was kann denn der SPD-Vorsitzende Müntefering, was der SPD-Vorsitzende Schröder nicht konnte?

Ich spreche nicht für die SPD oder Franz Müntefering. Mir wird zwar immer vorgeworfen, ich sei ein grüner Sozialdemokrat, aber diese Frage kann und will ich nicht beantworten.

Wird Rot-Grün unter dem Einfluss von Müntefering jetzt sozialdemokratischer, wird die Koalition eine sozial gerechtere Politik machen?

Die Koalition wird die Reformen energisch und umfassend fortsetzen. Wir dürfen uns da nicht zurücklehnen. Im Übrigen teile ich nicht Ihre Unterstellung, die Koalition hätte bislang keine sozial gerechte Politik gemacht.

Die Agenda 2010 ist sozial gerecht?

Ja, wenn man unter Gerechtigkeit versteht, jetzt die Erneuerung unserer Sozialsysteme voranzutreiben, damit sie auch künftig erhalten bleiben.

Blöd nur für Sie, dass die Mehrheit der Bevölkerung das anders sieht.

Ich verstehe, dass die Leute zum Teil unzufrieden sind. Wir muten ihnen ja auch einiges zu. Unser Land erlebt gerade einen dramatischen Umbruch. In allen Generationen vor uns war Krieg das Prinzip des sozialen Wandels. Jetzt durchläuft Deutschland zum ersten Mal in seiner Politik- und Wirtschaftsgeschichte eine friedliche Transformation solchen Ausmaßes. Aber es hilft nichts: Wir müssen da durch. Unsere Gesellschaft wird immer älter, und die Globalisierung lässt sich nicht ignorieren.

So blicken die meisten Menschen nicht auf die Welt. Die bezahlen 10 Euro beim Arzt und finden es ungerecht. Apropos: Haben Sie in diesem Quartal schon Praxisgebühr bezahlt?

Ich war seit Jahren nicht beim Arzt. Im Übrigen: Ich bin aus Überzeugung freiwilliges Mitglied einer gesetzlichen Krankenversicherung, ich zahle seit Jahrzehnten fleißig meinen Beitrag, bin aber fast nie krank. Gott sei Dank. In meinem Nachruf wird stehen: Er hat viel eingezahlt, aber wenig gekostet. Und das ist gut so.

Die Praxisgebühr bedeutet sicherlich nicht den Untergang des Abendlandes, aber 10 Euro plus Zuzahlungen bei Medikamenten tun vielen Menschen weh.

Warum wird eigentlich immer so getan, als wüssten wir Politiker das nicht? Meine Mutter hat Sozialrente bekommen, nachdem mein Vater mit 56 Jahren gestorben war. Sie musste mit 52 Jahren als Aushilfskraft im Supermarkt arbeiten gehen. Ich weiß, wovon wir reden. Aber das ändert doch nichts daran, dass die Gesundheitskosten viel zu zu hoch sind. Hätten wir die Krankenversicherungsbeiträge erhöht, wäre die Arbeitslosigkeit noch weiter gestiegen. Also mussten wir umsteuern. Das hätte übrigens jede andere Regierung auch tun müssen. Die Opposition drückt sich nur vor dieser Tatsache.

Aber als Botschaft kommt beim Bürger an: Die soziale Gerechtigkeit kommt später – wenn die harten Zeiten vorbei sind.

Dahinter steckt eine sehr grundsätzliche Frage: Wie organisiert die Linke, egal wie sie sich parteipolitisch formiert, soziale Gerechtigkeit unter den Bedingung der Globalisierung und der offenen Grenzen? Was kann sie dagegen tun, dass eine immer kleiner werdende Gruppe in der Gesellschaft mit einem „normalen“ Einkommen als Beschäftigte die Hauptlast der Solidarität trägt, während andere Gruppen, die über ein Kapitaleinkommen verfügen, auf der Gewinnerseite stehen?

Ihre Antwort?

Ich kann die Frage heute noch nicht abschließend beantworten. Auf jeden Fall wird die Antwort ohne Europa nicht mehr zu finden sein. Sie ist jedoch auch für den linken Wähler Joschka Fischer, nicht nur für den Politiker Fischer, von entscheidender Bedeutung. Gerechtigkeit heißt doch schon lange nicht mehr, von den Reichen zu nehmen und den Armen zu geben. Die Gerechtigkeit zwischen den Generationen ist mindestens genauso wichtig, weil nur so das dramatische Demografieproblem zu lösen ist. Dazu kommt die internationale Verteilungsgerechtigkeit, wenn wir die Konsequenzen des 11. September 2001 wirklich begreifen wollen. Es geht um mehrere Dimensionen von Gerechtigkeit.

Den Leuten würde vermutlich schon eine Dimension von Gerechtigkeit reichen.

Sie scheinen von unseren Wählern mehr zu verstehen als ich. Sie dürfen doch nicht die neuen Dimensionen der Gerechtigkeitsfrage gegen einen so praktischen Punkt wie die Praxisgebühr ausspielen. Die programmatische Frage ist kein Ablenkungsmanöver. Gott sei Dank haben wir Grünen im Wahljahr 2002 unser Grundsatzprogramm verabschiedet. Dass wir uns an die Programmarbeit gemacht haben, war für das Verständnis unserer Politik enorm wichtig.

Mit Müntefering regiert jetzt das Sauerland, die klassische Sozialdemokratie. Diese SPD konnte mit den Grünen, dem einstigen Bürgerschreck, lange Zeit nichts anfangen. Ist Müntefering ein Antigrüner?

Was sind denn das für rückwärts gewandte Betrachtungen. Sind Sie in den 80er-Jahren stecken geblieben?

Müntefering ist weiter?

Natürlich. Diese Schemata sind doch völlig überholt. Die Grünen haben ein Interesse daran, dass die SPD als linke Volkspartei in ihrer gesamten Breite repräsentiert wird, damit sie wieder deutlich nach oben kommt.

Müntefering hat selbst zugegeben, dass er mit dem Fortschrittsskeptizismus der Ökobewegung so wenig anfangen konnte wie mit Rockmusik.

Das mag ja so gewesen sein. Ich hatte mit dem grünen Fundamentalismus auch so meine Probleme. Aber seitdem sind 20 Jahre vergangen. Müntefering ist ein anderer geworden, die Grünen haben sich weiterentwickelt. Müntefering ist ein überzeugter Sozialdemokrat, aber deswegen kein Antigrüner.

Haben Sie zu ihm eigentlich einen guten Draht?

Ja. Wir pflegen einen professionellen, guten Umgang miteinander.

So wenig herzlich reden Sie sonst nur über Donald Rumsfeld.

Von wegen. Sie scheinen da eine völlig falsche Vorstellung zu haben.

Der nächste große Konflikt mit der SPD steht schon vor der Tür. Im März wird die Koalition über den Export der Hanauer Plutoniumfabrik nach China entscheiden. Kann der Außenminister das Geschäft noch stoppen?

Meine politische Auffassung ist bekannt: Ich bin gegen diesen Atomexport. Aber ich kann nur streng nach Recht und Gesetz handeln.

Das heißt, die Atomanlage wird nach China geliefert?

Das heißt es nicht. Von Siemens liegt eine Voranfrage zu diesem Exportgeschäft vor. Die Prüfung durch mein Ministerium ist noch nicht abgeschlossen. Die Bedingung ist klar formuliert: Eine direkte oder indirekte Nutzung der Anlage zu militärischen Zwecken muss ausgeschlossen sein. Außerdem möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass wir ein ungeklärtes Problem im Atomausstiegsgesetz haben, das auch der Außenminister nicht lösen kann: Bei der Änderung des Atomgesetzes wurde die Exportfrage leider nicht gelöst.

Sie wollen Ihre Partei schon mal darauf vorbereiten, dass sie die bittere Pille schlucken muss?

Es geht nicht um eine bittere Pille, sondern um eine rechtliche Entscheidung.

Fürchten Sie die Pläne Ihrer Basis für einen grünen Sonderparteitag?

Ich fürchte meine Basis nie. Über einen Sonderparteitag entscheidet allein die Partei. Ich kann nur dazu raten, die Entscheidung erst einmal abzuwarten und das Gesamtverfahren im Auge zu behalten. Worüber wir jetzt entscheiden, ist kein Antrag, sondern eine Voranfrage von Siemens. Das Verfahren ist noch lange nicht zu Ende.

Sie hoffen, dass Siemens irgendwann entnervt aufgibt und seinen Antrag zurückzieht?

Das habe ich nicht gesagt.

Kann die rot-grüne Koalition an dem Atomexport scheitern?

Die Konsequenz einer anderen Koalition ist, gerade was die Atompolitik betrifft, nur allzu bekannt.

Ist das Ihr Beitrag zur aktuellen Debatte über schwarz-grüne Koalitionen? Oder hat sich an Ihrer altbekannten Ablehnung in dieser Frage irgendetwas geändert?

Nein. Ich bin ein Rot-Grüner, und zwar aus Überzeugung.

Wenn Ihre Partei von der SPD nicht mit in den Abgrund gerissen werden will, bleibt ihr nur eine Möglichkeit: nach anderen Koalitionspartnern zu suchen. Da gibt’s nur die CDU.

Weder die SPD noch die Grünen werden in den Abgrund gerissen. Seien Sie da unbesorgt. Bleiben wir mal schön auf dem Teppich. Die Mehrheitsfähigkeit von Rot-Grün – das ist die Herausforderung. Für diese Mehrheitsfähigkeit werde ich weiterkämpfen.

Wird es in den nächsten zwei, drei Jahren irgendwo eine schwarz-grüne Koalition auf Landesebene geben?

Gott, bisher ist das doch alles nur Gerede. Wir sollten zunächst die Ergebnisse der Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen sehr sorgfältig analysieren.

Dort gibt es bereits mehr schwarz-grüne als rot-grüne Bündnisse.

Wir werden ja sehen, was uns die Wähler dazu mitzuteilen haben. Nur damit wir uns richtig verstehen: Wir reden hier nicht bloß über Zahlen und Arithmetik. Koalitionen werden auch nicht gebildet aus dem Gefühl: Rot-Grün, wie langweilig, wir brauchen mal was anderes! Es geht doch nicht um die Frage, wie hip so etwas ist.

Das behauptet keiner. Es geht um eine wachsende Übereinstimmung zwischen den Grünen und der CDU, etwa in der Finanz- oder Sozialpolitik.

Eine Koalition ist eine Frage an das Projekt, das zwei Partner verbindet, an die Substanz der Politik. Ich begreife mich, vielleicht altersbedingt, immer noch als Linker. Und dann schauen Sie sich doch Angela Merkel an und stellen Sie sich vor, sie wäre Bundeskanzlerin.

Können wir uns vorstellen.

Ich wusste bisher nicht, dass Nashörner in Mecklenburg zu Hause sind. Aber wenn ich mir anschaue, wie sich eine deutsche Delegation diese Woche in der Türkei gebärdet hat – das war wie ein politisches Panzernashorn im Porzellanladen.

Man kann auch sagen, Merkels Absage an eine EU-Mitgliedschaft der Türkei war ehrlicher und mutiger als die Hoffnungen, die der Kanzler jetzt bei seinem Besuch in Ankara den Türken machen wird.

Im Gegenteil. Wenn ich mir Frau Merkels Türkeipolitik anschaue, dann ist Mutlosigkeit angesagt. Natürlich gibt es kulturelle Ängste, die man ernst nehmen muss. Aber man muss doch auch sehen, die türkische Zuwanderung ist mit die kreativste, die wir in Deutschland haben. Das haben wir nicht nur gerade auf der Berlinale gesehen. Wenn ich also die deutschen Erfahrungen in Rechnung stelle, dann meine ich, die Ängste lassen sich balancieren mit einem Heranführen der Türkei an die EU.

Die Vorbehalte gegen einen EU-Beitritt der Türkei beziehen sich aber weniger auf die Zuwanderer, sondern auf das Land selbst.

Natürlich, ich habe ja die Sorge geteilt, ob denn die EU eine Grenze haben könne mit Ländern wie Syrien oder dem Irak. Aber spätestens seit dem 11. September ist klar: Wir haben diese Grenze jetzt schon. Deshalb ist ja die strategische Bedeutung der Türkei so überragend – und zwar für Frieden und Stabilität in unserem Land.

Liegt das Problem nicht in den Beitrittsverhandlungen? Wenn sie erst einmal eröffnet sind, bleibt der EU am Ende keine andere Wahl mehr, als die Türkei aufzunehmen.

Ich sehe das anders. Die EU-Kommission schaut da sehr genau hin, und wir tun dies auch. Wenn wir feststellen, dass der Beitrittsprozess stagniert, dann stagniert er. Wo Sie Recht haben mögen: Wenn der Prozess erfolgreich vorangeht, dann sind wir in Wort und Pflicht. Das fände ich aber auch richtig.

Die Aufnahme in die EU wird eine offene Entscheidung sein?

Sicher, aber ja. Und weil die Türkei das genauso sieht, wird sie alles tun, um die Beitrittskriterien zu erfüllen. Das prophezeie ich Ihnen heute schon. Die Türkei weiß doch sehr genau, dass der Zweck der Reformen nicht ist, in Europa lieb Kind zu werden, sondern dass sie selbst diese Schritte braucht.

Um die Mittelmeerregion geht es auch bei Ihrem Fischer-Plan, den Sie auf der Münchner Sicherheitskonferenz vorstellten. Der letzte Fischer-Plan ist gerade mal ein halbes Jahr alt – da ging es noch um ein neues Konzept für die Bürgerversicherung. Hat der Fischer-Plan für den Nahen Osten eine ähnlich kurze Halbwertszeit?

Was haben Sie nur immer? Die Debatte um die Bürgerversicherung wird in der Koalition schon in diesem Jahr in die Richtung gehen, die ich damals skizziert habe. Mir ist da um Halbwertszeiten nicht bange. Und was ich in München vorgeschlagen habe, ist auch nicht „Der Große Fischer-Plan“. Ich weiß nicht, warum Sie das immer so auf Personen verengen müssen.

Weil Sie nicht weniger als die Modernisierung der ganzen islamisch-arabischen Welt stemmen wollen.

Schauen Sie, hinter der Auseinandersetzung zwischen uns und den Amerikanern um den Irakkrieg stand doch eine grundsätzliche Frage: Können wir uns im Nahen und Mittleren Osten eine Strategie leisten, die auf das Militärische reduziert ist? Oder ist nicht das eigentliche Problem dieser Region, dass sie sich in einer Modernisierungskrise befindet? Wenn diese Modernisierungskrise aber das Sicherheitsproblem schlechthin darstellt, für moderate arabische Staaten wie für uns, dann müssen wir darauf gemeinsam eine Antwort finden.

Ist das nicht zu viel Soziologie für den US-Verteidigungsminister und das Pentagon?

Weiß ich nicht. Meine Vorschläge zielen in eine andere Richtung. In den USA wird derzeit sehr breit über diese Fragen nachgedacht, in der EU ebenfalls. Uns geht es einfach darum, nicht nur auf Vorschläge aus den USA zu warten, sondern gemeinsame europäische Vorschläge zu entwickeln. Ganz entscheidend ist dabei der Ansatz der Partnerschaft mit der Region, damit der Verdacht von Paternalismus, von Bevormundung erst gar nicht aufkommt. Ich würde mir wünschen, dass da Ideen aus der ganzen arabischen Welt kommen, nicht nur von Regierungen.

Beim Establishment der Sicherheitskonferenz hat Ihnen Ihr Entwurf den Verdacht der Naivität eingehandelt: Wir sind vom Mars, Fischer ist von der Venus.

Daran können Sie sehen, was für eine museale Veranstaltung das in München teilweise ist. Manche aus Think-Tanks und Publizistik sehen sich da als Großstrategen, dabei sind es meines Erachtens Leute, die Schwierigkeiten haben, sich auf die neuen Bedrohungen einzustellen. Nur dann kann man solche Gedanken als Rede von der Venus bezeichnen oder über die Frauenfrage in der islamischen Welt lachen. Solche Leute scheinen unter Strategie nur das Zählen – eins, zwei, drei – von atomaren Sprengköpfen zu verstehen und nicht zu begreifen, welche Bedeutung gerade im Nahen und Mittleren Osten etwa die Frauenfrage für die Zukunft dieser Gesellschaften hat.

So viel Feminismus hätten wir Ihnen gar nicht zu zugetraut.

Das ist Realismus. Man muss doch nur die Fakten anschauen: Die Hälfte der Bevölkerung der arabischen Welt ist unter 18 Jahren, entsprechend groß ist der Modernisierungsdruck in diesen Ländern. Da kommen Sie mit einem militärisch verengten Strategiebegriff nicht weiter. Wir müssen begreifen, dass wir in der Region eine Dynamik auslösen müssen, die die Modernisierungskrise in eine positive Bahn lenkt.

Sie wollen, dass die Nato sich in diesem langfristigen Prozess engagiert – die USA dagegen dringen auf einen baldigen Einsatz der Nato im Irak. Rechnen Sie mit Forderungen nach einer deutschen Beteiligung, wenn der Kanzler nächste Woche George Bush trifft?

Unsere Haltung ist klar, sie ist abgestimmt zwischen Bundeskanzler, Außenminister und Verteidigungsminister. Die habe ich in klaren Worten in meiner Rede in München vorgetragen.

Also auch im Rahmen der Nato keine deutschen Soldaten in den Irak?

Unsere Haltung ist klar und eindeutig.

Wo liegt der Ausweg aus der Krise im Irak?

Wir sind sehr für das, was UNO-Generalsekretär Kofi Annan dort macht. Wir waren von Anfang an dafür – ähnlich wie in Afghanistan –, auf diese Schiene zu setzen. Dann wären wir vermutlich heute weiter, bei allen Schwierigkeiten, die es gab.

Könnte die Nato im Irak ein Stabilisierungsfaktor sein?

Angesichts der Schwierigkeiten, die die mächtigste Militärmacht der Welt heute schon im Irak hat, ist die Frage natürlich berechtigt, was durch ein Engagement der Nato gewonnen werden kann. Ich habe da meine Vorbehalte und Zweifel. Die Nato ist nicht mächtiger, als die USA es sind.

Der Irak überfordert die Nato?

Ich bin da von tiefer Skepsis erfüllt. Zu den Details aber habe ich in München geschwiegen, ich werde auch hier schweigen.

Warum?

Es ging mir nicht darum, das Thema zu vermeiden. Ich wollte nur nicht wieder die Konfrontation aus dem Vorjahr eröffnen.

Gab es denn trotzdem eine herzliche Begegnung mit Donald Rumsfeld?

Das scheint Sie mehr zu berühren als mich.

Offenbar.

Warum interessiert Sie das eigentlich so sehr? Das frage ich mich schon seit Monaten.

Wenn zwei solche Dinosaurier aufeinander prallen, dann ist der Ausgang immer ungewiss – und das ist spannend.

Wieso zwei Dinosaurier? Dass ich mich schon im Lebensalter der 70-Jährigen bewege, muss ich streng zurückweisen!