Macht ohne Waffen

Europa kann sich gegenüber den USA nur behaupten, wenn es sich zur Friedensmacht entwickelt. Dazu müssen Frankreich und Großbritannien ihre Atomwaffen abgeben

Eine europäische Verteidigungsunion liegt heute mehr denn je fern der Wirklichkeit

In diesem Krieg, in dem sich Amerika schon auf den Weg zum nächsten Krieg gemacht hat, erfuhren alle europäischen Regierungen das Gleiche: Ihre Völker wenden sich ab von ihren Staaten als Militärmächten. Sie wollen den alten Gewaltmonopolisten nicht mehr. Die Europäer sehen die bittere Notwendigkeit einer wehrhaften Friedensmacht ein, aber sie wollen selbst über ihre Zwecke bestimmen. Amerika hat sie soeben davon überzeugt, dass sie keine Bundesgenossen mehr sind, weil sie als Partner nicht gebraucht werden.

Wenn Europa eine wehrhafte Friedensmacht werden will, dann liegt es jetzt an Frankreich, sich zum Geburtshelfer zu machen: durch die Abschaffung seiner Atomwaffen. Präsident Chirac hat bereits zu Beginn seiner ersten Amtszeit demonstriert, wie man sich eines Traditionsgutes entledigen kann, um die nationale Verteidigung zu stärken. Denn die allgemeine Wehrpflicht, von der er Frankreich entlastet hat, war ein hohes republikanisches Gut der Nation.

Seine Atomstreitmacht ist für Frankreich kein politisch nützliches Instrument mehr. Es ist keine Bedrohung Frankreichs und Europas zu sehen, die mit atomarer Gegendrohung abzuwehren wäre. Amerika sieht über dieses Waffenspielzeug hinweg, auch für die Geltung im Weltsicherheitsrat ist es ohne Gewicht.

Der politische Hauptzweck der französischen Atomstreitmacht hat sich aufgelöst: die Behauptung einer Autarkie der Abschreckung gegenüber der Hegemonialmacht im westlichen Bündnis, den USA. Mit dem plötzlichen Zerfall der bipolaren Weltordnung ist diese Rolle Frankreichs gegenstandslos. Die Herrschaft über die Mittel der äußersten, der atomaren Gewalt ist zu einer stumpfen Symbolik geworden. Das gilt nun sogar für das Imperium selbst. Würde Frankreich sich dieser Last entledigen, könnte es für sich und für Europa viel gewinnen. Dem letzten Imperium würde demonstriert, dass seine Über-Rüstung ins Leere läuft. Machte sich Europa im unvermeidlichen Niedergang der Nato atomwaffenfrei, wäre der atomare Drang kleinerer Nationen, zum Beispiel Israels, leichter zu dämpfen. Schließlich wäre Großbritannien mit dem sanften Zwang der Vernunft zur Einsicht zu bringen, dass es aus seinen Automwaffen, den einzigen dann verbliebenen in der Europäischen Union, keinen Gewinn ziehen kann. Gegenüber dem befreundeten Imperium hatte die britische Atommacht noch nie politisches Gewicht.

Frankreichs Atomwaffen-Verzicht würde nicht nur der Nation neue Anerkennung verschaffen. Weil er eine andere Ordnung der europäischen Drohpotenziale nach sich ziehen muss und damit ein neues Fundament für die Befriedungspolitik erforderlich macht, kann Frankreich nicht umhin, sich auch zum politischen Richtungsgeber zu machen. Wenn Frankreich diese Rolle ergreift, wird sie ihm von den anderen kontinentalen Staaten nicht bestritten werden.

Ein Ziel der politisch-militärischen Strategie Europas sollte sein, die Hypermacht Amerika mit ihren Atomwaffen allein zu lassen. Einer atomwaffenfreien Völkergemeinschaft stünde dann das waffenstarrende Imperium gegenüber. Es würde in seiner Rüstung bald ersticken, wenn es sie nicht lockern kann.

Mit der Isolierung Amerikas als Atommacht wäre die Konsequenz aus den Erfahrungen des vergangenen Jahres zu ziehen. Eine westliche Bundesgenossenschaft, wie sie in der Nato noch mit brüchigem Pathos beschworen wird, gibt es nicht mehr. Es gibt die Partnerschaft nicht, in der die Genossen Einfluss auf die absolute Vormacht üben könnten. Die amerikanische Regierung hat schonungslos vorgeführt, dass sie die europäische Staatengemeinschaft mit wenigen Manövern, etwa den Ergebenheitsadressen der Süd- und Osteuropäer, spalten kann. Ein paar kräftige Zuckungen des Leviathan genügten, um das europäische Projekt schwer zu beschädigen. Es ist kaum noch wiederzuerkennen. Ein Europa nach eigenem Gesetz, das sich aus politischen Gründen den Atomwaffenbesitz versagte und gerade dadurch an Überzeugungskraft gewönne, passt auch nicht in das weltstrategische Design Amerikas.

Deswegen ist die wieder einmal aufgewärmte Idee einer europäischen Verteidigungsunion, gruppiert womöglich um Frankreich und Deutschland, eine verfehlte, fast selbstmörderische Reaktion auf Amerikas Machtüberschwang. Politischer Zweck eines Wehrbündnisses nach dem Grundmuster der schon 1954 zum ersten Mal verblichenen EVU wäre es, eine eigene Interventionsstreitmacht so zu organiseren, dass die Europäer nicht bedingungslos den Launen des imperialen Amerika folgen müssen. Das noch vage Unternehmen ist zwar auf der richtigen Einsicht gegründet, dass das atlantische Bündnis endgültig zerfällt und dass die Nato nur noch als Folie für die geopolitischen Manöver Amerikas gut ist.

Eine neue EVU würde also ein politisch vereintes Europa stützen, das ein verlässlicher Bestandteil einer multipolaren Weltordnung wäre. Doch dies ist ein Projekt aus der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts mit ihren Machtbalancen. Durch die Schaffung einer relativen Gegenmacht, die auf militärische Potenz gegründet wäre, ist ein Imperium wie das amerikanische nicht zur Raison zu bringen.

Machte sich Europa atomwaffenfrei, wäre der atomare Drang kleinerer Nationenleichter zu dämpfen

Die Errichtung einer Verteidigungsunion lässt sich nicht ernstlich ins Auge fassen ohne die Berechnung, diese könne einigend auf die politisch sieche Gemeinschaft wirken. Ein Föderator, wie es zuvor die Herstellung des Binnenmarktes und die Währungsunion gewesen waren. Das mochte in den 50er- und den 70er-Jahren eine erwägenswerte Absicht gewesen sein, wenn auch ohne Chance auf Realisierung. Heute, nach dem Ende der bipolaren Ordnung, läge das Projekt fern der Wirklichkeit. Solange vor allem die militärischen Mittel es sind, auf die sich das Zusammenleben der Nationen ausrichten muss, herrscht die unipolare Ordnung unter dem Imperium Amerika. Amerika befindet sich heute, in seiner abgehobenen Kategorie der Herrschaft über alle Machtmittel, jenseits des Macht-Marktes von europäischem Ausmaß. Es bleibt mit sich allein, ist seinen Machtkrämpfen ausgesetzt. Die imperiale Republik kann, weil sie von der Verfügung über jede Art von Gewalt getrieben wird, nicht zur Ruhe kommen. Ihre Konvulsionen schlagen, wie soeben zu erleben, auch auf Europa und alle anderen Weltregionen aus. Das Imperium, das im Zenit seiner Herrschaft steht, trägt auch schon das Mal seines Scheiterns auf der Stirn. Von den herunterfallenden Trümmern werden sich die Europäer nicht durch eine kleine und feine Streitmacht schützen können.

Schon wird im Irak und auch sonstwo im Nahen Osten das Wort vom Kolonialismus laut. Amerika hat es zu fürchten – und die Europäer sollten sich hüten, in seine Nähe gezogen zu werden. Ein befreiender Schritt wäre da Frankreichs Verzicht auf Atomwaffen, aber auch der Verzicht auf eine Verteidigungsgemeinschaft, exklusiv für die Unionseuropäer. Dies könnte zeigen, dass sie aus ihrer Geschichte etwas gelernt haben.

CLAUS KOCH