berliner szenen Schneller sterben

Ohne Zahnersatz

Sie sehen aus wie ein uralt gewordenes HipHop-Paar. Zahnersatz ist im Budget nicht drin, und die Brillen sind aus der Caritassammlung. Sie trägt grobe Strümpfe zu einem plissierten Rock im Schottenkaro und hat lange Glieder. Ihr Gesicht ist mit Falten überzogen, ihre Wangen sind wegen des fehlenden Gebisses eingefallen, was ihre Nase spitz macht. Die Frau schlägt die Beine mit eleganten Bewegungen übereinander und kippt drei Tütchen Zucker in ihren Kaffee. Er trägt seine weiße, grob gestrickte Wollmütze wie einen Hut über den Ohren und schaut sie über die Gläser seiner Brille hinweg mit glasigen Augen an.

Eben hat sich eine kleine zitternde und aufgeregt flüsternde Frau verabschiedet. „Die Schmidten hat doch so schwer Asthma, das merkste richtig. Jedes Wort ist zu lang, da reicht die Luft nicht mal fürn ‚und‘. Schrecklich, ich krieg gleich ooch keene Luft mehr“, sagt die Frau und holt tief Luft. „Von wo hat’ses denn jekriegt?“ – „Weeß nich.“ – „Wieso, du weeßt doch sonst immer alles.“ – „Hab ich neben der jestanden? Vielleicht hat’ses von Arbeit. Die war im HO-Warenhaus inne große Küche.“ – „Wo war’n da ’ne Küche?“ – „Janz oben, dort konntste essen. Hat aber nich jeschmeckt.“ – „Naja, ich kenn die Mutter nich. Die hat doch ooch jesoffen, ham se immer erzählt, kein Wunder, dass die nich länger jemacht hat. Den Schulz seh ich auch nicht mehr.“ – „Is auch tot.“ – „War der nich auch mal wegen Suff in Uchte? Und wenn der bei seine Mutter kam und wollte Geld haben und die wollte ihm nischt geben, dann hat der die geschlagen.“ – „Tja, und nun wächst ihm die Hand aus’m Grab.“ – „Mann, Asche wächst nich aus’m Grab. Gibt’s hier Bier?“ – „Nee, nur alles ohne.“ Die Alte kippt den Kaffee wie einen Kurzen herunter. ANNETT GRÖSCHNER