Vorwärts nimmer …

In Augsburg fanden die fünften deutschen Meisterschaften im Rückwärtslaufen statt

Thomas Dold aus Steinach verbesserte seinen eigenen Weltrekord um eine Sekunde

Zum fünften Mal konzentrierte sich das Interesse zahlreicher Fernsehsender am Wochenende auf den Parkplatz der Turngemeinde Victoria 1896 Augsburg, wo 48 Läuferinnen und Läufer aus Süddeutschland zu einem denkwürdigen Rennen starteten. Nachdem hier im vergangenen Jahr ein Welt- und ein Europarekord gelaufen wurden, erwartete man auch diesmal Außergewöhnliches. Spektakulär war freilich bereits die Grundregel des Wettbewerbs: „Die Fußspitzen haben während des Laufens nach hinten zu zeigen.“

Es ist ein irritierender Anblick, wenn gestandene Menschen ohne Not den Rückwärtsgang einlegen. Mit Trippelschrittchen sprinten die Läufer nach achtern. Einer lugt über die linke, ein anderer über die rechte Schulter, was dem Feld chaotische Züge verleiht. Hinfaller sind nichts Ungewöhnliches, weshalb man Fahrradhelme, Handschuhe und Ellenbogenschützer trägt. Vereinzelt verlassen Läufer desorientiert die Bahn und kollidieren mit Zuschauern. Doch es geht meist glimpflich ab. Unterschätzt, so der Organisator Thomas Siegmund, wird die zermürbende Distanz von 1.000 Metern oder drei Runden. Da schlackern manchem hartgesottenen Cross-Läufer die Knie, dass es nicht mehr feierlich ist. Jeder Teilnehmer startet daher auf eigene Verantwortung, und der Ausrichter behält sich das Recht vor, nicht nur Teilnehmer aus dem Rennen zu nehmen, die sichtlich betrunken sind, sondern auch solche, deren Gesundheit während des Laufs aus Konditionsgründen gefährdet erscheint.

Trotz aller Gefahren gelang es im Lauf der Männer dem Deutschen Meister und Europameister des Vorjahres, Thomas Dold vom badischen SV Steinach, seine Rekordzeit um über eine halbe Minute auf jetzt 3 Minuten 35 Sekunden zu verbessern. Das ist zugleich neuer Retro-Weltrekord und bereits unterwegs ins Guinness-Buch. Bei den Frauen siegte Susanne Müller vom TV Ismaning, wo es seit 2003 ebenfalls ein Rückwärtsrennen gibt.

Auch die philosophisch rückwärts gewandte Gemeinde Messkirch im Schwarzwald hat inzwischen Gefallen am Retro-Movement gefunden und veranstaltet einen eigenen Wettbewerb, eine jährliche „Umkehre“ auf gut Heideggersch.

Die Disziplin an sich ist so neu nicht. Ein Schauläufer namens Christian Wilhelm Dreyer zeigte schon 1826 in Berlin, dass man auch alternativ ans Ziel kommt. Rückwärtslauf blieb jedoch eine Kirchweih-Gaudi wie Eierlaufen oder Sackhüpfen, bis 1987 in New York das weltweit erste ernsthafte Retourrennen stattfand. Fünf Jahre später entschlossen sich die Italiener zur Wettlauf-Umkehr, 1997 folgten die Franzosen. Während in Italien allein im vergangenen Jahr über zehn neue Wettbewerbe ausgelobt wurden, stellten die Franzosen 2001 einen einsamen Rekord auf: 4.000 Rückwärtsläufer liefen zusammen in 24 Stunden 2.439 Kilometer zurück.

Der erste Augsburger Retro-Lauf ließ das alte Europa zur Jahrtausendwende bei der rückläufigen Bewegung vollends in Führung gehen. Es gibt indes ein deutliches, innerdeutsches Nord-Süd-Gefälle läuferischer Flexibilität. Während sich die Nordlichter – der einstigen Dreyer’schen Vorführung völlig uneingedenk – noch bei den stupiden „6. Nordberliner Alpenkämpfen“ im Tegeler Forst Berlins vor- und aufwärts kämpfen, zeigen die süddeutschen Athleten bereits, wo und wie es in der Zukunft langgeht.

Sportmediziner der Universität von Oregon haben bei ausgedehnten Nachforschungen die Vorteile des Rückwärtslaufens erkannt. Das Herz-Kreislauf-System wird um ein Drittel stärker beansprucht, weshalb das aufgelaufene Körperfett schneller den Rückwärtslauf antritt. Das Gehirn des Retro-Runners sieht sich mit ungewohnten Zeit-Raum-Erfahrungen konfrontiert, was neue Synapsenschaltungen begünstigt und das Denken anregt. Der in Backwards-Locomotion Begriffene kann somit leichter Gegenmaßnahmen ersinnen, um Bäumen oder schreckensstarren Zuschauern auszuweichen, die an seinem rückwärtigen Horizont auftauchen.

Man braucht nur einmal rückwärts zu joggen, um die belebende Wirkung zu spüren und vorauszusehen, was kommt: Spätestens 2010 in Vancouver wird der Rückwärtslauf als olympische Disziplin Einzug halten. Die Läuferinnen und Läufer werden Headsets tragen und nicht mehr zeitraubend den Hals drehen oder rücklings aus dem Fernsehbild driften. Der Rückblick einer Knopfkamera am Hinterkopf wird ihnen bequem in einer Monitor-Brille angezeigt und den Weg weisen.

Retro-Bewegung (auch beim Gehen) wird den Menschen der Zukunft als Ausdruck geistiger Erneuerung, Umorientierung und Schläue gelten. Bei dieser Vorausschau kann man nur sagen: Augsburg ist auf dem besten Weg. TOM WOLF