: Der Fremde, so nah
Gleich drei Theaterinszenierungen in Zürich, Basel und Luzern umarmen den Schriftsteller Robert Walser. Wird der Autor jetzt zum Nationaldichter der skurrilen Eidgenossen?
VON TOBI MÜLLER
Warme, etwas angejahrte Unterwäsche hat Anna Viebrock zu beiden Seiten ihrer Bühne in Schaukästen ausgestellt. Dazwischen setzt die Raumzauberin Robert Walsers ersten Roman in Szene: „Geschwister Tanner“ (1907). Am Schluss, nach zweieinhalb meist leisen Stunden, als der junge, seltsam liebliche wie widerspenstige Träumer und Protagonist Simon Tanner in einem „Kurhaus“ landet, lässt es Viebrock in einem Lichtfenster schneien. Das sehr stilisierte, sehr schöne Bild der Kälte wirkt dennoch wahnhaft überhitzt.
Der Schnee ist beides: Vergessen und neues Versprechen, aber auch Ruhe und Tod. Im Schnee kam der schizophrene Dichter Weihnachten 1956 tot zu liegen, auf einem Spaziergang unweit der Klinik Herisau im Appenzellischen. Ein mythologisches Bild, das am Anfang der Verschmelzung des Autors mit seinen frühen Figuren steht – mit dem Aufsätze schreibenden Fritz Kocher, dem zarten Tagedieb Simon Tanner, dem Dienerschüler Jakob von Gunten. Alle Verbote, Autor und Figur gleichzusetzen, werden im Fall Walser oft missachtet. Als käme man nicht umhin, diese flirrenden Gleichzeitigkeiten von Unterwerfung und Renitenz, von Klarsicht und Wahnsinn, von wohliger Wärme und eisiger Kälte beim Dichter selbst zu vermuten. Der Walser-Boom auf Schweizer Bühnen zeugt auch davon.
Anna Viebrocks „Geschwister Tanner“ im Züricher Schauspielhaus, Ruedi Häusermanns Collage der späteren Kurzprosa in Basel mit dem Titel „Unterricht in der Kunst, die Fröhlichkeit nicht einzubüssen“, und Jarg Patakis formstrenge Inszenierung des „Jakob von Gunten“ im Luzerner Theater erzählen alle unterschiedlich im Spektrum zwischen Nähe und Distanz, Inhaltsseligkeit und Kunstwille. Erstaunlich dabei: Der Schweizer Akzent spielt überall seine Rolle, als würde ausgerechnet der sperrige Walser auf der Bühne zum Nationaldichter erklärt.
Jarg Pataki lässt die chorisch gefassten Schüler des Instituts Benjamenta wie die Hauptfigur Jakob eine scharf artikulierte Kunstsprache reden, deren immer gleiche Melodie am Satzende in die Höhe schnellt. Trotz Fremdheit klingt das helvetisch, man hört darin in Satzmusik übersetzt, was Jakob und viele Walser-Männer in ihr Unglück stürzt: das Aufbegehren im scheinbaren Gehorsam. Dies dann gründlich, unerbittlich. Auf der kleinen Bühne des Theaters Basel reden die Schweizer Schauspieler im Ensemble mit Akzent, das Ländliche wird betont und gefeiert. Alles begeisterte Walser-Leser, alle umarmen „ihren“ Autor.
Die Fremdheit Walsers lagert Häusermann gänzlich in die Musik aus. Das Weshalb-Forellen-Quartett bearbeitet quer und leise einige Lieder von Erik Satie. Der Abend ist stimmig, lustig, klug. Aber verniedlichend. Walser zu nahe zu treten, ihn zu nahe an sich selbst zu binden, ist nicht Frevel, aber auch keine gute Idee: Man tilgt so die Widerstände des Autors, der gerade in der obsessiven Beschreibung (auch) seiner Heimat diese als ihm äußerst fremd kennzeichnen konnte.
In Zürich entschärft Anna Viebrock die Gefahr der nationalen Vereinnahmung Walsers am längsten, weil sie die Frauen des Romans ins Zentrum stellt. Bettina Stucky spielt sie alle, Stefan Kurt ist derweil Simon. Stucky und Kurt sind ein Ereignis, hier kann man sehen, wie fern jeder „virtuosen“ Blenderei genaues Schauspiel in Kürze alles erzählen kann. Wenn Klara Agappaia, die ehelich vernachlässigte Dame aus besseren Kreisen, Simon ein Zimmer vermietet, liegt die Walser’sche Nussschale bereits aufgeknackt vor uns. Stucky hält die Türe zur Kammer vorschnell und deutlich zu lange auf, sie will den schäbigen, aber netten Mann um jeden Preis, also umsonst im Haus haben. Sie sagt: „Bin ich nicht eine arme Frau?“, und das tönt überglücklich. Kurts Simon legt die Beine aufs Tischchen, und das sieht trotzdem freundlich aus. Die Hysterisierte, aber Mächtige und der gleichzeitig Forsche wie Untergebene: Stucky und Kurt reißen diese erotische Mutter-Sohn-Beziehung sofort und uneitel auf.
Die Namen der Frauen wechseln, Stuckys Spiel unterscheidet zwar klar zwischen den Figuren, doch die Beziehungen sind bloße Variationen. Denn „Geschwister Tanner“ ist ein Entwicklungsroman ohne Entwicklung, dafür mit einer Liebe zu Details. Zum Beispiel des Standes: Immer wenn Simon im Roman eine neue Bleibe (und eine neue Dame) findet, muss er steile Straßen aufwärts gehen. Deshalb unterteilt Viebrock ihre Bühne. Eine Treppe führt zu einem grotesken Gartenzaun – die obere Etage gehört ganz Bettina Stucky. Unten stehen Tische, an denen fünf Musiker schreiben, malen und musizieren. Johannes Harneit komponierte dafür kleine Skizzen. Oft sind es nur erweiterte Akkorde, zweimal traurige Lieder mit sachte die Auflösung hinauszögernden Stimmführungen. Einer sitzt unten mit dem Rücken zum Publikum und zupft die Bratsche; die vier Musiker vom Ensemble für Neue Musik Zürich fläzen beschäftigt und doch faul an den Tischen. Später spielen sie sich auf Zithern Phrasen zu. Und alles ist ganz leise. Als dürften die Tanners nie auffallen.
Nur in den ländlichen Gefilden, bei Simons Schwester Hedwig, wird offen gemuckst. Die Lehrerin Hedy korrigiert lauthals Schulhefte, die musizierenden Tanners essen Trockenfleisch und rauchen Pfeife, aus dem Radio erklingt Schweizerisches, man spricht sogar Schweizerisch. Jetzt ist sie doch da, die Skurrilisierung der Eidgenossenschaft – Walser wird zum kuscheligen Nationaldichter.
Am Schluss findet der mal szenisch-monologische, dann wieder beinahe wie eine Installation anmutende Abend erneut zu einer großen Dichte jenseits des Petitistischen. Kurt bleibt stumm, Stucky ist die strenge, hübsche Hausherrin des Kurhauses. Alles wird neu, abermals. Es schneit. Stucky lehrt sanft, küsst über den Tisch und sagt: „Ihr Benehmen hat etwas Fesselndes, wissen Sie das?“
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