Virus des Misstrauens

Impfkampagne in Afrika soll Ausrottung der Polio einläuten. Aber in Nordnigeria legen sich Islamisten quer

Nigeria ist heute für fast die Hälfte der Polio-Neuinfektionen weltweit verantwortlich

BERLIN taz ■ Ein massiver Streit in Nigeria gefährdet den Erfolg der am Montag begonnenen weltweiten Impfkampagne gegen Polio (Kinderlähmung). Vier Bundesstaaten im muslimischen Norden Nigerias boykottieren die Impfungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und des UN-Kinderhilfswerks (Unicef), weil ihre Regierungen denken, dass der Impfstoff Hormone enthält, die zur Unfruchtbarkeit führen können. Die Bundesstaaten Bauchi, Kano und Zamfara haben die Teilnahme an der Impfaktion verweigert; der Bundesstaat Niger zog sich aus ihr gestern zurück.

Die WHO will Polio bis Ende 2004 weitweit ausrotten. Noch nie war dieses Ziel so nahe, erklärte sie im Januar: Von 350.000 Neuerkrankungen weltweit im Jahr 1988 sank die Zahl 2003 auf 677, und in nur noch sechs Länder ist die Kinderlähmung endemisch: Nigeria, Indien, Pakistan, Ägypten, Niger und Afghanistan. Daher gebe es eine einmalige Gelegenheit, die Polio komplett auszurotten, indem alle 250 Millionen Kinder unter fünf Jahre in diesen Ländern immunisiert werden. Eine erste koordinierte Impfkampagne für 63 Millionen Kinder in West- und Zentralafrika wurde für diese Woche vorbereitet.

Doch schon 2003 wehrten sich islamische Rechtsgelehrte in Nordnigeria gegen die oral verabreichte Polioimpfung und behaupteten, der Impfstoff würde Unfruchtbarkeit oder gar Aids herbeiführen und sei Teil eines westlichen Komplotts gegen Muslime. Dadurch scheiterten bereits nationale Impfkampagnen in Nigeria. Im selben Jahr löste der nordnigerianische Bundesstaat Kano mit 89 Neuinfektionen den indischen Bundesstaat Uttar Pradesh als Region mit den meisten neuen Poliofällen der Welt ab. Nigeria ist nun für fast die Hälfte der Polio-Neuinfektionen weltweit verantwortlich, sagt die WHO. Schlimmer noch: Aus Nordnigeria sei der Poliovirus vergangenes Jahr in sieben Länder der Region eingeschleppt worden, in denen die Kinderlähmung bereits als ausgerottet galt. Daher beteiligen sich jetzt auch Benin, Burkina Faso, die Elfenbeinküste, Ghana, Kamerun, Niger, Tschad, Togo und die Zentralafrikanische Republik an der neuen Impfkampagne.

Wie schon bei der Einführung des Scharia-Strafrechts in Nigerias Nordhälfte in den letzten Jahren hat auch beim Streit um die Polioimpfung Nigerias Zentralregierung versäumt, klare Stellung zu beziehen. Statt die landesweite Durchführung der Impfung anzuordnen, kündigte sie vergangenes Jahr wissenschaftliche Untersuchungen des Impfstoffs an, um den Vorwürfen der Islamisten nachzugehen. Nachdem Tests in Nigeria selbst nicht möglich waren, weil die Testgeräte kaputt waren, ließ die Regierung den Impfstoff in Südafrika testen, veröffentlichte die Ergebnisse aber nicht. Parallel dazu wiesen islamische Wissenschaftler aus Kano nach eigenen Angaben bei Tests in Indien im Impfstoff das sterilisierende Hormon Estradio sowie Krebs erregende Stoffe nach.

Solange sich die Wissenschaftler nicht einigen, will die Provinzregierung von Kano wie auch ihre Verbündeten ihre Bürger nicht zur Impfung verpflichten. Wenn aber Nigeria als weltweit größter Polioherd außen vor bleibt, warnt die WHO, wird sich die Kinderlähmung ausbreiten statt ausgerottet zu werden.

DOMINIC JOHNSON

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