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Volkskrankheit Falscher Fuß

Aufstehen und Niedersinken der Menschen in der morgendlichen Stadt Peine

Obwohl ihm nur noch der linke Fuß zur Verfügung stand, ist er mit dem rechten aufgestanden

Die Gefahr, mit dem falschen Fuß aufzustehen, wird oft unterschätzt. Vor allem in Peine. Hätte beispielsweise ein gewisser Herr Grün, Abteilungsleiter der Härke Brauerei, den ob eines chronischen Scheuermanns mehrfach wie nachdrücklich vorgetragenen Rat des Betriebsarztes Nagel verinnerlicht und auch am Morgen des traditionellen Freischießens dreimal tief durchgeatmet, dann beide Unterschenkel gleichzeitig aus der stabilen Seitenlage über die Bettkante Richtung Boden gleiten lassen, um den Körper schließlich schön langsam über den unten ruhenden Ellbogen und die Hand des oben quer zur Hüfte liegenden Armes in eine aufrechte Position zu heben, anstatt seine 85 Kilo, umnebelt von Restalkohol, Traumruinen und Harndrang einfach nach vorn zu wuchten, das linke Bein unter der nebendran schläfrig grunzenden Frau hervorzuziehen und auf den Teppich zu stellen, während das rechte noch im 60-Grad-Winkel unter Grüns verspanntem Hinterrist steckte, wäre ihm ein weiterer Bandscheibenvorfall sicher erspart geblieben.

So aber kroch Grün wie ein geprügelter Hund ins Bad, versuchte, den Lichtschalter zu erreichen, ließ es sein, weil ihm der Schmerz mit Karacho in die Wirbelsäule fuhr, hievte sich also im tiefsten Dunkel auf den Klosettdeckel, von wo aus er stöhnend nach einer Salbe tastete, welche Nagel für solche Fälle verordnet und Grüns Gattin seines Wissens gegenüber auf dem Arzneischrank deponiert hatte.

Ein Irrtum, den Grün leider viel zu spät bemerkte, weshalb eine Menge Tigel, Flakons und Döschen zu Bruch gingen, bis er selber aus dem Gleichgewicht geriet, lang hinschlug und mit gebrochener Nase auf den Fliesen lag. Dort fand ihn Frau Grün, ahnend, dass sie seit 17 Ehejahren mit dem falschen Bein aufgestanden sein musste.

Dasselbe Gefühl trug auch der Schlosser Resch länger als gut für ihn war durch den Ortsteil Edemissen. Resch war Linkshänder und wie die meisten Menschen mit dieser Disposition, stieg er stets mit dem linken Fuß aus dem Bett. Jeden Morgen Schlag fünf Uhr. Er tat das auch an jenem Tag, der den stillen Mann aus der Bahn werfen sollte. Resch putzte Zähne, duschte, machte zwanzig Liegestütze und auch sonst alles wie immer, hatte aber noch um sechs Uhr das Gefühl, er stehe rechts neben sich, obwohl der Schlosser tatsächlich längst am Frühstückstisch saß, was Sohn und Tochter Resch im Nachhinein glaubhaft bestätigten. Resch präzisierte später, es sei ihm vorgekommen, als habe er sich persönlich beim Kaffeetrinken, ja, recht eigentlich beim Existieren zusehen können. Vor allem aber sah er Gisela, sein Weib, dessen Schatten finster und schweigend wie der Trumm des alten Walzwerkes über der Wurstplatte dräute und Eier guillotinierte. Irgendetwas stimmt nicht, dachte der Schlosser, aber er kam nicht drauf. Es fiel ihm auch später nicht ein, als er beobachtete wie Resch mittags im „Belgrad Grill“ statt der üblichen Reispfanne sieben Gläser Härke Pils hinunterwürgte. So ging das drei Monate lang. Resch schlief schlecht und wurde mager. Besser wurde nichts. Nach einer weiteren durchwachten Nacht vergaß der Maschinenschlosser sogar mit dem linken Fuß voran aufzustehen. Er putzte Zähne, duschte, machte zwanzig Liegestütze. Dann ging er in die Küche, griff mit der rechten Hand nach einem Tranchiermesser und zerlegte seine Frau in vier Teile. Das Gericht verwies ihn nach acht Verhandlungstagen an die Nervenklinik Ilten nahe der Landeshauptstadt Hannover. Dort hieß es, Resch mache keine Probleme, er meistere den Alltag wieder mit links.

Ein anderer, ebenso tragischer Fall betrifft den Kriegsveteranen Krans, der in Peine-Stederdorf kurz nach neun vor seinem Bett zu Tode kam. Laut Polizeibericht hatte Krans folgender Umstand das Genick gebrochen: Er war mit dem falschen, dem rechten Fuß aufgestanden, obwohl ihm nur noch der Linke zur Verfügung stand. Das komplette rechte Bein moderte seit 56 Jahren im Kessel von Kursk, wo es nach dem Einschlag eines feindlichen Granatsplitters an einem seidenen Faden gehangen hatte, vorschriftsmäßig amputiert und endlich in russischer Erde begraben worden war. Den Phantomschmerz ertrug Krans ein Leben lang ohne Murren, in späteren Jahren quittierte er sein Erscheinen sogar mit Genugtuung, zuweilen sogar mit Dankbarkeit. Hatte man Krans doch kurz vor der entscheidenden Schlacht nebst anderen Versehrten aus dem Kessel geflogen, um sein Schicksal zu Helmstedt in die Hände einer reizenden Krankenschwester namens Frl. Binder zu legen, die er kaum genesen ehelichte. Dass ausgerechnet jenes rechte, so viel Lebensglück spendende Bein den Krans letztlich doch ins Grab beförderte, empfanden selbst einige der engsten Angehörigen als irgendwie stimmige Pointe. MICHAEL QUASTHOFF

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