Akzeptanz durch Penetranz

Feuerwerk der Harmlosigkeiten: Die großen Rondo Veneziano spielten vor klatschfesten Senioren ein Potpourri aus Tschaikowsky, Dallmayr Prodomo und Captain Future

Normalerweise setzt zu Beginn von Klassikkonzerten, während das Orchester zu den Pulten schreitet, bereits Applaus ein. Nicht so am Dienstag im Konzertsaal der Universität der Künste: 22 schwarz-weiß gekleidete Damen und Herren betreten die Bühne, doch im Publikum ist man sich noch unsicher: „Sollen wir jetzt schon klatschen?“

Erst als später sieben junge Damen mit ausladenden, farbenfrohen Kleidern und weißen Perücken erscheinen, ertönt Applaus. „Ah!“, „Oh!“. Den Damen folgt, begleitet von „Bravo!“-Rufen, ein bärtiger, untersetzter Mann. Gian Piero Reverberi, oder schlicht: Il Maestro. Er ist seit 25 Jahren der Boss von Rondo Veneziano.

Was der Genuese auf über 20 Millionen verkauften Tonträgern mit den sich sonst so fremden Genres E- und U-Musik anstellt, ist unfassbar clever. Oder unfassbar schamlos, wie man’s nimmt. Aus dem Backkatalog der E-Musik destilliert er die harmlosesten, seichtesten Melodien. Er peppt sie mit Pop/Rock-Elementen auf, steckt sie in prächtig glänzende Rokoko-Outfits und schmiert noch eine satte Portion venezianische Gondolieri-Romantik oben drauf. „Klassik light“, wie geschaffen für den „ZDF Fernsehgarten“ oder für „Wetten, dass?“. Oder eben für Berliner zwischen fünfzig und sechzig.

Die quetschen sich zahlreich in Klappsitze mit zu kurzen Lehnen und fehlender Beinfreiheit, die Gesichter gerötet, vor Vorfreude und Bluthochdruck. Sie riechen nach Alkohol oder billigem Parfum und tragen bunte Kleidung. Das ist der Vorteil eines Rondo-Veneziano-Konzerts: Man fühlt sich nicht – wie sonst bei Klassikkonzerten – genötigt, in edlem, gedecktem Zwirn zu erscheinen. Man zieht einfach an, was man dem Anlass entsprechend für angemessen schick hält.

Maestro Reverberi hebt den Taktstock – er bestreitet das Programm komplett auswendig. Er wirbelt rastlos zwischen seinem Podest und einem Steinway-Flügel hin und her, flankiert von hohen Boxentürmen, durch die Soundingenieure breiten Hall schicken. Reverberis Kompositionen klingen wie ein buntes Potpourri aus Vivaldi, Mozart, Beethoven, Tschaikowsky und anderen Klassikklischees. Wie eine zwei Stunden lange Dallmayr-Prodomo-Werbung, die allerdings – wenn der Rock-Schlagzeuger und der E-Bassist einsetzen und die Streicher hektisch schrubben – auch zum rasanten Sechzehntelgewitter oder zum Captain-Future-Soundtrack mutieren kann. Böse Überraschungen gibt es nicht, dafür wird jede musikalische Idee endlos wiederholt. Akzeptanz durch Penetranz.

Die sieben namenlosen Rokoko-Grazien, im Halbkreis um Maestro Reverberi drapiert, beobachten zwischendurch neugierig das Publikum – als wollten sie mal sehen, wer da freiwillig 38 Euro für ihr Konzert hingeblättert hat und wer da so eifrig nach jedem Stück klatscht. Denn das ist der zweite große Vorteil eines Rondo-Veneziano-Konzerts: Man muss nicht ausharren, bis die ganze Sinfonie zu Ende ist, man darf immer klatschen. Und Maestro Reverberi weiß das zu nutzen. Er dreht sich zum Publikum und dirigiert auch den Applaus.

Vor der dritten Zugabe – das Orchester und die Rokoko-Grazien sind längst hinter der Bühne verschwunden –, steht er dann ganz allein im Getöse. Angst macht ihm das nicht, im Gegenteil: Es gibt ihm solch einen Kick, dass er seine flinken Finger noch ein letztes Mal über den Flügel fliegen lässt. Wen sollte bei rasantem Stakkato schon die ein oder andere verschluckte Taste stören? Die Berliner stehen auf und johlen wie geplant. Der Maestro lächelt freundlich und malt mit seinem Taktstock eine letzte souveräne Geste in die Luft. Mission complete. JAN KEDVES