Einmal durchlüften, bitte

Nichtstun als finale Provokation: Miwa Yanagi inszeniert Zukunftsvisionen einer japanischen Frauengeneration zwischen Dienstleistungsverweigerung und Endlosparty. Ihre Großformate sind nun in der Deutschen Guggenheim zu bewundern

VON ULRICH CLEWING

Das Foto ist ungefähr zwei Meter hoch, was allein noch nicht bemerkenswert wäre, erstreckte es sich nicht in der Deutsche Guggenheim Berlin über eine ganze Wand, reichte also von einem Ende des Saals zum anderen. Um das Bild zu betrachten, genügt es nicht, einfach nur davor zu stehen. Man muss daran vorbeigehen, es abschreiten wie ein Stück Echtzeitarchitektur; und um Architektur handelt es sich hier auch – zumindest auf den ersten Blick. Das Foto zeigt das Innere eines Gebäudes. Es könnte ein Einkaufszentrum sein, eine Kongresshalle oder ein Flughafen, und mit etwas Fantasie entsteht die Illusion, man sei selber Teil des Bildes.

Das ist natürlich die volle Absicht. Die Japanerin Miwa Yanagi, 1967 in Kobe geboren, ist eine Meisterin des strategisch genutzten Effekts. Knapp zwei Dutzend Fotoarbeiten sind in der Ausstellung zu sehen, und die Reaktionen darauf sind zuverlässig immer wieder gleich. Zuerst ist man überwältigt von den Dimensionen der Bilder, der Leuchtkraft der Farben, den verwirrend-labyrinthischen Räumen. Dann schleicht sich langsam Unbehagen ein: Das alles schaut so verdammt künstlich aus, zumal die Orte, die Yanagi einem präsentiert, nicht menschenleer sind. Im Gegenteil: Überall stehen, hocken, sitzen, kauern junge Frauen herum. Sie tragen identische Röcke, Blusen, Jacken, Hüte und ähneln sich auch sonst auf fatale Weise: dieselben Frisuren, dieselben Gesichter. Die digitale Fotografie ist in ihren Möglichkeiten weiter als die Wissenschaft, Klone herzustellen ist für sie kein Problem.

Aber die Dinge sind nicht so, wie sie scheinen. Nach einer Weile bemerkt man nämlich, dass die Frauen sich durchaus unterscheiden. Kloning ist nicht Yanagis Thema, doch ob diese Erkenntnis nun eine sehr beruhigende Wirkung hat oder das Ganze nur schlimmer macht, ist noch die Frage. Die Bilderserie trägt als Oberbegriff den Titel „Elevator Girls“. Diese Elevator Girls – Hostessen, die in Bürogebäuden und Shopping-Malls an Empfangstischen und Fahrstühlen warten, um Auskünfte zu erteilen – gibt es in Japan tatsächlich; angeblich sind die Jobs bei jungen Japanerinnen sogar begehrt (doch das ist wahrscheinlich eher ein Gerücht).

Für Miwa Yanagi jedenfalls sind sie die passende Metapher für den Horror einer standardisierten, im Korsett perverser Konventionen gefangenen Gesellschaft, die dringend ein bisschen mehr frische Luft vertragen könnte. Und auch für die Frischluftzufuhr hat die 36-Jährige Künstlerin ein geeignetes Bild gefunden: Bei ihr tun die Elevator Girls genau das, was sie nicht dürfen – sie lungern herum, sie ruhen sich mal eben aus oder stehen in Gruppen beieinander und unterhalten sich. Das ist nett, wirkt anrührend und friedlich und ist definitiv nicht comme il faut. Als diese Bilder zum ersten Mal in Tokio ausgestellt wurden, riefen sie einen echten Skandal hervor, eine Resonanz, die den provokativen Gestus Miwa Yanagi im Grunde nur umso stärker bekräftigte.

Frauen, die sich unbotmäßig benehmen, kommen auch in der zweiten Bilderserie dieser Ausstellung vor. Für diese Arbeiten hat Yanagi eine kleine Umfrage gestartet: Sie wollte von Mädchen wissen, wie sie sich selbst in ferner Zukunft als Großmütter vorstellen. Die Ergebnisse der Befragung wurden nicht nur zur Grundlage von Fotos, sie deuten auch darauf hin, dass sich Japan in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wohl ganz schön verändern wird. Das eine Mädchen will eine Hippie-Oma sein, die mit ihrem Rocker-Enkel auf seinem mächtigen Motorrad über die Golden-Gate-Brücke brettert. Das andere hätte gern einen hübschen, großzügig angelegten Freizeitpark, in dem sie Comic-Kostüme tragen darf, obwohl sich das für sie als Managerin an sich nicht gehört. Die dritte junge Frau würde gerne Partys feiern bis zum Abwinken, während die vierte sich in gediegenem Ambiente mal eben ein ganzes Leben lang ausruht.

Insgesamt sind bisher zwölf dieser Traumfotos entstanden, was nicht unbedingt ein Zufall sein muss.

Zwölf Fotos, für jeden Monat im Jahr eines, damit das Schaffen von Miwa Yanagi auch unter Aspekten des tradionellen Zen-Buddhismus seine Vollkommenheit und Vollendung findet. Wenn die Anzeichen nicht täuschen, stehen Japans Männer vor einem, nennen wir es: Paradigmenwechsel. Zieht euch warm an, Jungs.

Bis 28. März, Deutsche Guggenheim, Unter den Linden 13/15, Mitte