Erster Mai: Die Anti-Anti-Anti-Demo

Zum ersten Mai 2003 hat die Berliner Linke sich eine neue Art der Fraktionierung ausgedacht: Um drei demonstrieren die PalästinenserfreundInnen, um sechs die Israel-Fans. Im Brennpunkt des Konflikts: Darf man die israelische Fahne schwenken?

von PHILIPP GESSLER

Steinewerfende Jugendliche, rasende Polizeiautos, übereifrige Boulevardjournalisten – der 1. Mai dürfte dieses Jahr in Berlin so ablaufen wie immer seit Ende der Achtzigerjahre. Auf den ersten Blick. Denn beim genauen Hinsehen und schon im Vorfeld ist klar, dass dieses Jahr etwas anders sein wird: Die Linke, die sich zu „revolutionären Mai-Demonstrationen“ in Kreuzberg und Berlin-Mitte treffen wird, ist tief gespalten über eine Frage, die vom Rand ins Herz der Kundgebungen zum traditionellen Tag der Arbeit gerückt ist: Wie steht ihr zu Israel?

Es sind die so genannten Antideutschen, die diese Frage seit ein paar Jahren immer drängender stellen – und ihre Position ist klar: Sie stehen vehement für Israel ein, als Fluchtpunkt aller Juden der Welt. Spätestens seit drei Jahren, seit der zweiten Intifada mit ihren Selbstmordattentaten, werfen sie dem (größeren) Rest der Linken vor, allzu Palästina-freundlich zu sein. Schlimmer noch: Teile der radikalen Linken neigten zum Antisemitismus. Auch die Friedensbewegung gegen den Irakkrieg habe neben antiamerikanischen auch antisemitische Züge getragen.

Am 1. Mai in der Hauptstadt macht sich diese Spaltung der Linken an zwei Symbolen fest: der Uhrzeit, zu der man als echter Linke zu einer Demonstration geht, und an der Israelfahne: Die Antideutschen rufen unter dem Motto „Gegen Antisemitismus und Antizionismus! Solidarität mit Israel!“ zur Teilnahme an der „revolutionären Demonstration“ um 18 Uhr nach Berlin-Mitte. Von dort geht es nach Kreuzberg. Das antideutsche Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus (BgAA-Berlin) schätzt, dass zu ihrem „antideutsch-israelsolidarischen Block“ ein Fünftel der rund 5.000 Menschen kommt, die man beim 18-Uhr-Protestzug erwartet. Israelfahnen mitzunehmen, ist dabei durchaus erwünscht.

Die andere „Revolutionäre 1.-Mai-Demonstration“ startet um 15 Uhr in Kreuzberg – dort ist die Israelfahne explizit unerwünscht, ja würde als Affront gewertet: „Wir können nicht gewährleisten, wie die Kreuzberger auf solche Provokationen reagieren werden“, sagt ein Sprecher der Autonomen Kommunisten, die die 15-Uhr-Demonstration mitorganisieren. Für die Antideutschen drückt die Israelfahne ihre grundsätzliche Solidarität mit dem Staat Israel aus. Für ihre Gegner dagegen zeigt die Israelfahne eine Zustimmung zur umstrittenen Politik von Israels Premier Ariel Scharon. Ein Sprecher des antideutschen BgAA warnt bereits, es wäre „Harakiri“, mit dem Davidsternbanner zur 15-Uhr-Kundgebung nach Kreuzberg zu gehen – wer dies tue, müsse damit rechnen, von linken Genossen „aufs Maul“ zu bekommen. Allerdings wolle man das Ganze nicht so hoch hängen, da man „keine Lust auf eine Opferpose“ habe. In ihrer Mehrheit versuchen auch die Planer der 15-Uhr-Demonstration den Konflikt mit den Antideutschen zu deeskalieren: Sie distanzieren sich von der Berliner Anti-Nato-Gruppe, Mitorganisatoren der 15-Uhr-Kundgebung, die den Israelblock der 18-Uhr-Demo blockieren will.

Immerhin zeigte sich die Berliner Polizei vor knapp zwei Wochen noch besorgt, dass es am 1. Mai zu Rangeleien zwischen Antideutschen und anderen Linken kommen könnte. „So beschimpft wird man nie in Kreuzberg, wie wenn man etwas für Israel sagt“, erzählt Justus Wertmüller, Redakteur der Vierteljahresschrift Bahamas, die die Meinungsführerschaft im antideutschen Milieu hat. Er und andere Antideutsche berichten von Rangeleien mit linken Palästina-Fans am Rande einer Pro-Israel-Veranstaltung im April letzten Jahres. Dabei soll ein Gegner sogar ein Springmesser gezückt haben.