Verlorenes Männchen

Brillianter Kampf gegen sich selbst: Der Monolog „Die Nacht kurz vor den Wäldern“ des französischen Dramatikers Bernhard-Marie Koltès feierte im Malersaal des Schauspielhauses Premiere

von Katrin Jäger

„Piep, piep, piep“, zirpt das dünne Männchen (Edgar Selge). Es hockt in der Mitte des kahlen Raumes. Die Arme angewinkelt wie kleine Flügel. Nach schüchternen Flugversuchen schießt es endlich zu voller Länge auf. Diese phönixgleiche Befreiungsattitüde bedeutet gleichzeitig seinen Tod. Jedenfalls in seinem Kopf. Denn in seiner Einbildung schießt ein verrückter Offizier auf alles, was sich bewegt. Selge, der Fremde, irrt ziellos umher, rennt in die Zuschauerrreihen, richtet den Zeigefinger auf einen im Publikum, „dessen Fresse“ er gern hätte. „Du bist nervös“, steckt er einem anderen. Hilflose Versuche der Kontaktaufnahme, mit anderen und sich selbst.

Das Herumirren und Irrewerden ist das zentrale Thema in Bernhard-Marie Koltès‘ Frühwerk Die Nacht kurz vor den Wäldern, das jetzt im Malersaal des Schauspielhauses Premiere hatte. Stets auf der Suche nach so etwas wie Heimatgefühl, spricht das Protagonistenmännchen ununterbrochen von sich, ohne sich zu kennen. „Ich bin der Macker“: Das klingt lustig angesichts der dürren Erscheinung. Ebenso zum Schmunzeln: sein inbrünstig vorgetragenes „ich, der Vollstrecker“. Da schwingt die Sehnsucht danach mit, allmächtig zu sein, geboren aus dem Narzissmus des ewig Ohnmächtigen. Über anderthalb Stunden hält Selge diese Spannung, erlebt das Drama des verlorenen Männchens mit staccatohafter Stimme; kontrapunktisch klacken die Cowboystiefel bei jedem Schritt. Das fesselt. Umso mehr, als Regisseur Jens-Daniel Herzog die Zuschauer mitspielen lässt. Ob man will oder nicht, jeder Einzelne ist dieser obskure „Kamerad“, den das Männchen anspricht, über den sich sein Zorn über die „deutschen Schwachköpfe, diese Mörderfratzen in ihren Luxusmasken“ entlädt. Flucht unmöglich, denn die Zuschauer sitzen im voll erleuchteten Raum.

Vor zehn Jahren spielte Selge in den Münchner Kammerspielen zum ersten Mal dieses Häuflein Elend. Über hundert Mal nun schon. Die Rolle ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen, dieses Schwanken zwischen absurder Komik und absoluter Tragik, wenn er einen Eimer Wasser über seinem Kopf ausgießt, wenn er im Männerklo als einziger seinen Schniedel wäscht, den schlaffen Kollegen dazu in Gedanken liebevoll in die Hand nimmt und ihm am Waschbecken „zu trinken gibt“, während die „Schwachköpfe von Deutschen“ ihn anglotzen, als sei er nicht ganz dicht.

An Aktualität hat Koltès Monolog, den er 1977 mit 29 Jahren verfasste, nichts eingebüßt. Der Text offenbart im Gegenteil die wahnhaften Facetten des Modeworts Globalisierung. Denn der dünne Ausgestoßene züchtet in seinem hirngespinstigen Kopf die Idee einer „internationalen Gewerkschaft zum Schutz von Muttersöhnchen“. International muss sie sein, warum ist egal, Hauptsache anti: „Gegen die kleine Zahl von Fickern da droben, die Technokraten.“

Das Wahnkonstrukt der internationalen Gewerkschaft entlarvt den Begriff der Globalisierung als abstrakte verbale Hülle für – ja, für was eigentlich? Für in ökonomischen Abläufen kanalisierte und somit als wirtschaftliche Männerbünde legalisierte Homoerotik – jedenfalls sieht Koltès‘ Außenseiter das so. Seine Gewerkschaft soll dafür sorgen, „dass wir nicht geil werden“. Das Außenseitermännchen berührt nur ein einziges Mal sich selbst, als er sich dem Kamerad mit einem leisen „Ich liebe dich“ öffnet. Um dann sofort wieder vor sich wegzulaufen, hin zu Frauen, die ihm, und da wird der sonst starke Text ganz schwach, nur überhöhte „Mama“, Fickobjekt „Nutte“ und „schlafende Schönheit“ sein können.

nächste Vorstellung: Sa, 28.2., 20 Uhr, Malersaal des Schauspielhauses