Jenseits der Coolness

Plappern, um nicht verletzt zu werden: Alina Bronskys beeindruckend schutzloser Debütroman „Scherbenpark“

VON LAVINIA MEIER-EWERT

Dieses Buch lässt wenig Zweifel daran, wie es gelesen werden möchte: „Eine Frechheit, politisch inkorrekt und gewaltverherrlichend“, tönt die mit viel Willen zum Russen-Kultbuch durchgestylte Website, „komisch“ und „respektlos“, der Klappentext, „sogleich Spitzentitel“, und das bei einem „unverlangten Manuskript“! Und die jugendliche Erzählerin in Alina Bronskys Debütroman „Scherbenpark“ scheint zunächst nicht weniger kalkuliert aufzutreten. Sascha heißt sie, aber sie ist „kein Kerl, auch wenn das hierzulande jeder denkt“, sie kann „elfmal besser Deutsch als alle Russlanddeutschen zusammen“, und wenn sie eine Zwei schreibt, „kommt der Lehrer zu mir und entschuldigt sich“.

Aus ihrem betont coolen Dahergerede indes entschlüsselt sich ein Familiendrama vom Ausmaß einer antiken Tragödie. Saschas Mutter und ihr Lebensgefährte sind vor den Augen der Kinder von Vadim, dem Vater von Saschas kleinen Geschwistern, erschossen worden. Die traumatisierten Kinder leben unter der Obhut von Vadims aus Nowosibirsk angereister Cousine, die ihren „armen Waisenkindchen“ in gezuckerte Kondensmilch getunkte Pfannkuchen macht, im Leben außerhalb ihres Russenghettos aber hoffnungslos auf die kluge Sascha angewiesen ist.

Die Distanz, die Sascha durch ihre plappernd zur Schau getragene Lässigkeit zu halten versucht, wird von Beginn an unterlaufen von ihrer vereinnahmenden präsentischen Erzählweise. Welche Kraft sie aufbringen muss, um diesen Schutz aufrechtzuerhalten, spürt man an ihrem zwanghaften Drang, aus allem eine Pointe herauszuholen – und sei sie noch so platt: „Ich erkenne sofort, wer von den beiden Susanne Mahler ist, denn das andere ist ein Mann“, kalauert sie bei der Begegnung mit der Volontärin, die einen schmalzigen Reuiger-Sünder-Artikel über den Mörder ihrer Mutter geschrieben hat. Sosehr Sascha durch ihre Coolness beeindrucken will, so wenig tut sie das durch eine originelle Sprache („Seine Augen lachen“). Ihre schmucklose Umgangssprache, die hauptsächlich auf Handlungsverben wie „fragen“, „sagen“ und „denken“ zurückgreift, wirkt so glatt wie Saschas Fassade, weil sie gar nicht erst so tut, als verberge sich hinter der Oberfläche noch eine tiefere Bedeutung.

In ihrem unablässigen Erzählstrom, in den immer häufiger fragmentarische Erinnerungen an ihre Mutter einfließen, entwickelt sich die Siebzehnjährige zu einer so komplexen wie sympathischen Figur, die nicht nur die anderen Russlanddeutschen in ihrer Umgebung, sondern vor allem die deutsche Gesellschaft, in der sie lebt, treffsicher und amüsant charakterisiert. In den Beschreibungen der sauber gekämmten Mitschüler und mit dem liebevoll-sezierenden Blick auf die in vieler Hinsicht typisch deutschen Eltern des erschossenen Freundes ihrer Mutter gelingt der in Jekaterinburg geborenen und in Deutschland aufgewachsenen Alina Bronsky eine fein beobachtete Milieustudie.

Die Geschichte gewinnt an Rasanz, als Sascha den Journalisten Volker und dessen Sohn Felix kennenlernt, zu denen sich ein rührendes und nicht unkomisches Dreiecksverhältnis entwickelt, in dem sie sich vom Vater angezogen fühlt, aber mit dem Sohn etwas anfängt. Eine Episode reiht sich an die nächste, und mit der Zeit wird deutlich, dass hier auch ein Verarbeitungsprozess stattfindet – auch wenn solche Wörter im Roman nur „die Doppelnamen vom Jugendamt“ in den Mund nehmen würden. Saschas unnahbare Fassade bekommt Risse, als sie merkt, dass auch andere verletzbar sind. Die Spannung entlädt sich schließlich in einer surreal anmutenden Steinigungsszene gegen die zunächst gesichtslose Fensterfront ihres Hochhausblocks. Das ersehnte Innehalten dieses Romans ist ein gespenstisch stiller Moment, in dem als einziges Geräusch das Splittern des Glases zu hören ist. „Das Fenster zerbricht in tausend glitzernde Scherben. Einen Bruchteil des Augenblicks hängen sie in der Luft, ein großes schwereloses Kunstwerk, dann stürzen sie auf den Asphalt, wo sie in noch kleinere Stücke zerschellen.“

Alina Bronsky: „Scherbenpark“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 288 Seiten, 16,95 Euro